Menschenrechtskonvention zum 75. Jubiläum unter Druck
In einem offenen Brief im Mai hatten neun europäische Staats- und Regierungschefs - darunter von Dänemark, Italien, Österreich und Polen - den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine Auslegung der EMRK in Migrationsfragen kritisiert, weil sie den Handlungsspielraum der Staaten zu stark einschränke.
Die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR), Beate Rudolf, blickt mit Sorge darauf. "Das ist alarmierend im Rechtsstaat", sagte Rudolf der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Kritik am Gerichtshof dürften die Staaten natürlich äußern, aber nicht durch öffentlichen Druck, sondern indem sie sich an den Gerichtsverfahren beteiligen.
Der Generalsekretär des Europarates, Alain Berset, kritisierte im APA-Interview "Druck" auf den Gerichtshof für Menschenrechte. Gleichzeitig zeigte sich Berset gesprächsbereit bei der Forderung, die Ausweisung ausländischer Straftäter zu vereinfachen. "Ich werde einen Vorschlag machen, aber es gibt zwei Bedingungen: Die Diskussion muss im Europarat stattfinden. Und der zweite Punkt, der sehr wichtig ist: Es muss eine politische Diskussion sein, das heißt nicht eine Art Druck auf den Gerichtshof", sagte Berset vergangene Woche.
Dana Schmalz, Expertin für Migrationsrecht und Menschenrechte am Max-Planck-Institut für Völkerrecht, wünscht sich eine differenziertere Debatte über die Entscheidungen des EGMR. Wahlweise heiße es, der Gerichtshof sei aktivistisch und schütze Migranten übermäßig, oder er sei gekippt und wahre die Menschenrechte nicht mehr, sagte Schmalz der dpa. Für beide Extreme gebe es keine Faktengrundlage, so die Rechtswissenschaftlerin.
Weit verbreiteter als verbale Attacken von Politikern sei aber das "stille Ignorieren von Urteilen", mit dem die Konvention untergraben werde, sagte Schmalz weiter. Der Gerichtshof stelle regelmäßig bei den Flüchtlingslagern in Griechenland Verletzungen der EMRK fest. Es ändere sich aber überhaupt nichts. Die Rechtswissenschaftlerin befürchtet, dass so die tatsächliche Wirkung der Institution und ihrer Entscheidungen abnehme. "Mit jedem Urteil, was die EU-Staaten ignorieren, kratzt man ein bisschen an der Autorität des Gerichtshofs." Die Menschenrechtskonvention und der Gerichtshof kämen "zunehmend unter Beschuss, insbesondere im Zusammenhang mit Migration", sagte der österreichische Menschenrechtsexperte Manfred Nowak im Ö1-Mittagsjournal.
46 Staaten zur Achtung verpflichtet
DIMR-Direktorin Rudolf fordert ein klares Bekenntnis vonseiten der Staaten zum Gerichtshof. "Wir sollten stolz darauf sein, dass wir in Europa einen Gerichtshof haben, der verbindlich und letztinstanzlich entscheidet bei Menschenrechtsverletzungen durch Staaten", sagte die Direktorin des Menschenrechtsinstituts. "Das haben wir über 75 Jahre entwickelt."
Am 4. November 1950 unterzeichneten die ersten Mitgliedstaaten des Europarats das Abkommen. 1953 trat es in Kraft. Mittlerweile verpflichtet die EMRK die 46 Staaten des Europarats, eine von der EU unabhängige Organisation.
Gesundheits- und Sozialministerin Korinna Schumann betonte in einer Aussendung: "Menschenrechte entfalten ihre Wirkung erst dann, wenn sie im Alltag spürbar werden - ganz besonders für jene, die Unterstützung brauchen oder gesellschaftlich benachteiligt sind." Gleicher Zugang zu Gesundheit, Pflege und sozialer Sicherheit sei kein Privileg, sondern Ausdruck gelebter Menschenwürde und Solidarität.
"Die Europäische Menschenrechtskonvention ist das Fundament unseres Rechtsstaats und Ausdruck unserer gemeinsamen europäischen Werte. Wer sie in Frage stellt, stellt die Grundpfeiler unserer Demokratie infrage", warnte Agnes Sirkka Prammer, Menschenrechtssprecherin der Grünen. Prammer kritisierte als "beschämend", dass sich Österreich der Initiative zu leichteren Abschiebungen angeschlossen habe.
Zusammenfassung
- Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) feiert ihr 75-jähriges Bestehen, steht aber angesichts wachsender Kritik und politischem Druck auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insbesondere in Migrationsfragen unter Druck.
 - Experten und Menschenrechtler warnen, dass das zunehmende Ignorieren von EGMR-Urteilen – etwa zu Flüchtlingslagern in Griechenland – die Autorität des Gerichtshofs und die Wirksamkeit der Konvention schwächt.
 - Die EMRK verpflichtet aktuell 46 Staaten des Europarats zur Einhaltung grundlegender Menschenrechte, und Politikerinnen wie Agnes Sirkka Prammer betonen, dass Angriffe auf die Konvention die Grundpfeiler der europäischen Demokratie gefährden.
 
