Hilfs-NGOs: Rote Linie der Humanität in Gaza überschritten
Die Lage sei nicht nur für die palästinensische Zivilbevölkerung lebensgefährlich, sondern auch für Helfer, sagte Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich. "Es gibt in ganz Gaza keinen einzigen sicheren Ort." Begleitet von Angriffen der israelischen Armee und immer wieder neuen Evakuierungsaufrufen an Zehntausende bereits mehrfach Vertriebene finde eine "systematische Zerstörung des Gesundheitssystems" statt. "Unsere Aufgabe ist es eigentlich, Leben zu retten, aber in Gaza können wir das kaum mehr erfüllen."
Laut Leyser "fehlt es an allem: Nahrungsmittel, Medikamente, Trinkwasser." Der Vizepräsident der Caritas Österreich, Alexander Bodmann, sprach von einer "menschengemachten, beispiellosen humanitäre Katastrophe" und "Hungerkrise". Diese habe nach zweieinhalb Monaten, in denen Israel alle Hilfslieferungen blockierte, einen traurigen Höhepunkt erreicht. Bodmann zufolge sind mindestens 60.000 palästinensische Kinder im Gazastreifen unterernährt, 91 Prozent der Gesamtbevölkerung sind von der Ernährungskrise betroffen. "Fast alle Vorräte sind aufgebraucht, die medizinische Versorgung ist praktisch nicht mehr existent", sagte Bodmann. Dabei stünden an den Grenzen zum Gazastreifen zahlreiche Lkw bereit - nur einen Kilometer von Bedürftigen entfernt. "Hilfe wäre ganz einfach möglich", so Bodmann.
Scharfe Kritik übten er und Leyser am neu und ausschließlich eingesetzten Hilfsmechanismus der US-amerikanischen Gaza Humanitarian Foundation (GHF), der in den vergangenen Tagen angelaufen ist. "Viel zu spät und viel zu wenig", formulierte es die Ärzte-ohne-Grenzen-Leiterin. Auch für den Caritas-Vize reichen die bisher bereitgestellten Mengen "bei weitem nicht aus, um die katastrophale Versorgungslage zu beheben".
Nach der Eröffnung eines von nur vier GHF-Logistikzentren im Gazastreifen, das von unzähligen hungrigen Menschen belagert und gestürmt wurde, war es laut israelischen Medienberichten und Augenzeugen am Dienstag zu chaotischen Szenen gekommen. Die israelische Armee teilte mit, Soldaten hätten außerhalb des Zentrums Warnschüsse abgegeben. Laut palästinensischen Angaben soll es mehrere Tote und viele Verletzte gegeben haben.
Leyser kritisierte die "private Art" der Hilfsaktion: Humanitäre Hilfe "muss unabhängig, neutral und unparteiisch sein". Sie äußerte die "große Sorge", dass die GHF "militärisch instrumentalisiert" und für Zwangsvertreibungen genutzt werden könnte. Auch Bodmann prangerte den "Einsatz privater bewaffneter Auftragnehmer" an. Der Mechanismus erreiche Menschen nur selektiv. Nur vier Zentren für 2,2 Millionen Menschen sei zu wenig, die Wege für die vielen geschwächten Menschen zu lang. Das sei "nicht praktikabel" und auch das "verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht". "Man tut sich schwer, das ernst zu nehmen", so schlecht sei die GHF organisiert.
Appell an die Bundesregierung
Zu ihrer Aktion brachten Ärzte ohne Grenzen und Caritas neben der Roten Linie auch ein Spruchband und große rote Ballons mit. Auf dem Spruchband stand: "Humanitäres Völkerrecht in Gaza wahren". Auf den Ballons gab es ein klares Nein zu "Hunger als Kriegsmittel" bzw. "Blockade" oder "Instrumentalisierung von Hilfe".
Leyser und Bodmann forderten vor diesem Hintergrund entschlossene diplomatische Schritte gegen die Zustände und auch ein entschlossenes Handeln der österreichischen Politik. Jeder Tag ohne Konsequenzen sei ein Tag der Einverständnis mit der derzeitigen Situation, so Leyser. "Das muss sich ändern." An Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (NEOS) appellierte sie: "Nutzen Sie ihren Einfluss (...), um humanitäre Hilfe im Gazastreifen wieder zu ermöglichen, und zwar in einem Ausmaß, wie es notwendig ist für alle, die es brauchen. (...) Frau Außenministerin, jetzt ist die Zeit für Taten, nicht nur Worte."
"Es braucht einen öffentlichen Druck", sagte Bodmann im Gespräch mit der APA. Er verwies darauf, dass in vielen europäischen Ländern und auch in Israel Menschen gegen die desaströse Lage im Gazastreifen auf die Straße gehen.
Beide Chefs der zwei Hilfsorganisationen betonten bei der Aktion vor dem Außenministerium, dass die Massaker der militanten palästinensischen Terrororganisation auf Israel vom 7. Oktober 2023, die den Gaza-Krieg gegen die Hamas nach sich zogen, nicht zu relativieren seien. Auch die Geiselnahmen der Hamas verurteile man klar.
Zusammenfassung
- Caritas und Ärzte ohne Grenzen werfen der israelischen Regierung eine systematische Verletzung des humanitären Völkerrechts im Gazastreifen vor und sprechen von einer beispiellosen humanitären Katastrophe mit akuter Gefahr für Zivilisten und Helfer.
- Mindestens 60.000 Kinder sind laut Caritas unterernährt, 91 Prozent der Bevölkerung leiden an einer Ernährungskrise, während Hilfslieferungen seit zweieinhalb Monaten blockiert und dringend benötigte Vorräte fast vollständig aufgebraucht sind.
- Der neue US-Hilfsmechanismus GHF wird von beiden Organisationen als unzureichend kritisiert, da nur vier Logistikzentren für 2,2 Millionen Menschen bereitstehen und die Hilfe selektiv sowie schwer zugänglich ist.