APA/Lukas Moser

Frontlinie in Irpin ging mitten durch die Nachbarschaft

0

Ortseinfahrt zur Kiewer Vorstadt Irpin: Ein Bagger steht vor einer Dutzende Meter langen Halle bzw. vor dem Trümmerhaufen, der davon noch übrig ist. Nur ein blitzgrün herausleuchtendes Schild lässt darauf schließen, dass hier einmal ein Supermarkt war, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner aus der Nachbarschaft ihre täglichen Einkäufe erledigten. Wie viele von diesen noch leben, lässt sich kaum abschätzen.

Die Umgebung ist so stark zerstört, dass kaum beurteilt werden kann, was ein Wohnhaus war und was nur eine Lagerhalle oder generell nur ein Schutthaufen. Auch bei den (wenigen) nicht direkt getroffenen Häusern sind kaum Fenster unbeschädigt. Was Raketen, Artillerie und Patronen nicht direkt erledigten, zerstörten die entsprechenden Druckwellen. Irpin steht, wie auch die knapp 30 Kilometer nordwestlich gelegene Kleinstadt Borodjanka, als Synonym für die enorme infrastrukturelle Zerstörung während der ersten Kriegstage in der Oblast Kiew.

An einem der Hauptplätze der Stadt wurde sogar die zentrale und in der Bevölkerung beliebte Statue in Mitleidenschaft gezogen. Mehr schlecht als recht thront sie zwar noch in mehreren Metern Höhe, ihr Zusammenbruch scheint nur noch eine Frage von Stunden zu sein. Die zerschossenen Laternenlichter rundherum vollenden das düstere Bild.

Am Weg zur Nachbarschaft, die für viele Tage exakt zwischen den ukrainischen und russischen Truppen lag und dementsprechend zerstört wurde, soll auch das berühmte Restaurant "Kamelot" liegen. Die kurzzeitigen Gedanken an eine mögliche Einkehr sind einem nach der Ankunft beim Gebäude peinlich. Auch dieses Gebäude, nur wenige hundert Meter von der erwähnten Nachbarschaft entfernt, ist natürlich nicht mehr geöffnet: "Kmeot" kann man von der Straße aus auf dem ausgebrannten Gebäude prangend lesen - es ist von Einschusslöchern und zerborstenen Scheiben geprägt.

Zuletzt war hier eine Hochzeit geplant. Die Stühle der langen Tafel sind ordentlich am Tisch aufgestapelt - es macht den Anschein, als würde man hier noch immer auf die Gesellschaft warten. Der weiße Vorhang wird vom Wind, der durch die völlig zerstörten Fenster dringt, an den Tisch geweht. Wo ansonsten die Gläser zum Wohl auf das Hochzeitspaar klirren, knirschen bei jedem Schritt die mehrere Zentimeter hoch aufeinander liegenden Glassplitter, die sich unentwegt in die Schuhe bohren. Im Eingangsbereich liegt buntes Sandspielzeug, mit dem Kinder spielten, bevor der Krieg auch hier zuschlug. Das zweite Obergeschoß ist gar nicht mehr zu erreichen, das Dach ist hier über der Stiege zusammengebrochen. Blumenschmuck liegt am Boden und glänzt aus grau-braunen Trümmern heraus.

Wenige hundert Meter weiter: Ein Spielplatz inmitten der angesprochenen Nachbarschaft. Drei Hunde liegen im Sand und sehen sich die zerstörten Gebäude ringsum an. Bunt angemalte Bänke, Ringelspiele und Klettergerüste sind von Schüssen durchlöchert und zeugen von der Brutalität der Kämpfe. Einige zerstörte Fenster in den zu großen Teilen ausgebrannten Häusern sind mit Plastikplanen verklebt - dahinter blicken immer wieder schüchterne Augen heraus. Ja, noch immer leben hier vereinzelt Menschen. Zu einem Interview ist aber niemand bereit, der Schock sitzt zu tief. Einzig die Hunde im Innenhof verstecken sich nicht.

Wir wagen uns in eines der von außen völlig zerstört wirkenden Wohnhäuser. Schon die Eingangstüre ist von Dutzenden Einschüssen durchlöchert, das Stiegenhaus ist ausgebrannt und völlig verwüstet. Im ersten Obergeschoß ist eine Türe geöffnet, auch hier wütete das Feuer unaufhörlich. An der Unbewohnbarkeit besteht kein Zweifel, in einem tragischen Sinne zeugen die Wohnungen aber noch von (vergangenem) Leben: Das erste große Zimmer ist ein einziger Trümmerhaufen, auf den die Sonne durch ein Loch, an dessen Stelle einmal ein Fenster gewesen sein musste, scheint. Welche Art von Zimmer sich hier befand, lässt sich unmöglich rekonstruieren.

Rechts davon betreten wir ein Wohn- und Schlafzimmer. An jenen Büchern, die nicht dem Feuer zum Opfer fielen, kann man die Interessen der ehemaligen Bewohner ablesen. Bilder hängen noch halbzerstört an der Wand, Stofftiere und Nähzeug deuten auf eine Familie hin, die hier bis vor kurzer Zeit ihr Leben verbrachte. Waschmaschine, Badewanne und Toilette sind völlig verbrannt. In der Küche liegen Töpfe und Geschirr in unzählbaren Kleinteilen am Boden, die Fliesen bröckelten durch die Hitze von der Wand. Es ist ein bedrückendes Gefühl: Ist es nicht auch nun bis zu einem gewissen Grad eine Ruhestörung?

In den wenigen Wohnungen, die wir noch betreten haben, zeigten sich ähnliche Bilder. In einem war das Kinderbett noch gemacht, am Nachtkasten stand das Bild des Mädchens - das Glas des Rahmens war gesprungen, der Rest der Wohnung stark verwüstet, immer wieder sieht man Blutspuren. Nur wenige Meter daneben schlug ein Geschoß ein. Es sind persönliche Schicksale, die hier in schrecklichen Tragödien endeten - wie so oft in der Ukraine in den vergangenen Wochen und in der Gegenwart. So augenscheinlich wie in Irpin wurde es aber kaum wo anders. Wer von den ehemaligen Bewohnern diese Hölle überlebte, kann (noch) nicht immer rekonstruiert werden. Tausende Menschen haben hier ihr Zuhause verloren, nicht wenige auch ihr Leben.

ribbon Zusammenfassung
  • Ortseinfahrt zur Kiewer Vorstadt Irpin: Ein Bagger steht vor einer Dutzende Meter langen Halle bzw. vor dem Trümmerhaufen, der davon noch übrig ist.
  • Nur ein blitzgrün herausleuchtendes Schild lässt darauf schließen, dass hier einmal ein Supermarkt war, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner aus der Nachbarschaft ihre täglichen Einkäufe erledigten.
  • Wie viele von diesen noch leben, lässt sich kaum abschätzen.

Mehr aus Politik