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EU-Beitritt der Ukraine laut Studie machbar

Ein EU-Beitritt ist laut einer aktuellen Studie machbar. Das Land ist gemessen an den ökonomischen Beitrittskriterien im Großen und Ganzen kein Sonderfall und sollte wie die elf Staaten, die zwischen 2004 und 2013 EU-Mitglied wurden, erfolgreich integriert werden können.

Laut dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und der Bertelsmann Stiftung ist dafür die Voraussetzung "aber der notwendige politische Wille in den EU-Hauptstädten, das in der Ukraine vorhandene Potenzial auch zu heben", sagt Miriam Kosmehl, Senior Expert Eastern Europe und EU Neighbourhood der Bertelsmann Stiftung.

Allerdings existieren große Herausforderungen. Dazu zählen der enorme Bevölkerungsverlust durch den Krieg, die nach wie vor verbreitete Korruption, der schwache Rechtsstaat, die niedrige Produktivität der Wirtschaft oder die geringe Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen.

Vergleichbar mit Polens Beitritt

Volkswirtschaftlich dürfte die Ukraine die EU kaum überfordern. Würde das Land heute beitreten, würde sich die Wirtschaftsleistung der Union um ein Prozent und ihre Bevölkerungszahl um neun Prozent vergrößern - ein ähnlicher Effekt wie beim EU-Beitritt von Polen 2004. In den Jahren vor dem russischen Überfall wuchs das BIP der Ukraine zwischen 2000 und 2008 und 2010 und 2013 sowie 2016 und 2019 schneller als jenes der EU.

"Das deutet darauf hin, dass die Ukraine die Fähigkeiten hat, nach Ende des Krieges ähnlich rasch aufzuholen, wie seinerzeit die neuen Mitglieder im Osten, vor allem wenn sie einen vertieften Zugang zum gemeinsamen Markt und Geld aus den Brüsseler Finanztöpfen erhält", betont Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des wiiw und Co-Autor der Studie. "Eine glaubwürdige EU-Beitrittsperspektive, die das Land bis vor Kurzem noch nicht hatte, wird diesem wirtschaftlichen Aufholprozess sehr helfen", erklärt Grieveson. Die Wirtschaftsstruktur der Ukraine ähnelt heute stark jener Rumäniens vor dessen Aufnahme in die EU und wird stark von Landwirtschaft und Bergbau geprägt, während die Industrie eine etwas kleinere Rolle spielt.

Makroökonomisch war das Land vor dem Krieg relativ stabil, auch wenn die Inflation traditionell höher lag als bei anderen Beitrittskandidaten und es immer wieder großen Abwärtsdruck auf die Währung gab. Einige Bereiche der ukrainischen Wirtschaft wie der IT-Sektor, die Metallindustrie, die Rüstungsindustrie und vor allem die Landwirtschaft sind bereits äußerst wettbewerbsfähig und verfügen über großes Potenzial. "Die Ängste, dass der ukrainische Agrarsektor zum Fass ohne Boden für das EU-Budget werden könnte, sind unbegründet. Vielmehr produziert die ukrainische Landwirtschaft dank fruchtbarer Schwarzerdeböden und billiger Arbeitskräfte so effizient, dass sie eine ernsthafte Konkurrenz für viele EU-Staaten darstellt, wie der Streit um ukrainische Getreideexporte nach Polen und Ungarn zeigt", erläutert Grieveson.

Größtes Problem: Krieg

Neben vielen Lichtblicken gibt es aber auch Schattenseiten. Am schwersten wiegt der große Bevölkerungsverlust durch den Krieg, vor allem durch geflüchtete Menschen. Unabhängig davon, wie lange er dauert, und ob es zu einer weiteren militärischen Eskalation kommt oder nicht, dürfte sich die Ukraine demografisch nie mehr von den Folgen des Krieges erholen, wie eine andere Studie des wiiw mit der Bertelsmann Stiftung gezeigt hat. Auch im Jahr 2040 wird sie mit rund 35 Millionen Einwohnern etwa 20 Prozent weniger haben als vor dem Krieg (2021: 42,8 Millionen).

Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dürfte dabei am stärksten und folgenreichsten sein. Die fehlenden Arbeitskräfte werden ein großes Problem für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung darstellen. "Flexible Arbeitsmodelle sind noch wichtiger geworden. Eine gemeinsame EU-Ukraine-Strategie könnte zirkuläre Migrationsprogramme vorantreiben und Anreize für EU-Unternehmen schaffen, Ukrainer:innen mittels 'virtueller Mobilität' zu beschäftigen", sagt Kosmehl.

Korruption

Die zweite große Hürde ist die nach wie vor grassierende Korruption in Verbindung mit einem immer noch schwachen Rechtsstaat, trotz gezielter Antikorruptionsreformen in den vergangenen Jahren. Die Ukraine ist derzeit noch von den institutionellen Standards der EU-Mitgliedsstaaten Ostmitteleuropas zum Zeitpunkt ihres Beitritts entfernt und in etwa vergleichbar mit Bulgarien und Rumänien, als diese in den 1990er-Jahren ihr Beitrittsgesuch stellten. Um das institutionelle Niveau dieser beiden Staaten bei ihrem EU-Beitritt 2007 zu erreichen (Rumänien und Bulgarien werden bei der Rechtsstaatlichkeit bis heute von der EU-Kommission überwacht), muss die Ukraine noch Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung machen und vor allem ihre ordentlichen Gerichtsbarkeiten und Strafverfolgungsorgane nachhaltig reformieren.

In ihrem jüngsten Bericht betont die EU-Kommission allerdings, dass die Ukraine auch während des Krieges große Fortschritte in diesen Bereichen gemacht hat. "Legt man das Reformtempo früherer Beitrittsländer zugrunde, würde die Ukraine in etwa zehn Jahren institutionell für den EU-Beitritt bereit sein", präzisiert Kosmehl. "Allerdings lassen die starke ukrainische Zivilgesellschaft und die aktive Experten-Community, der in der Gesellschaft verbreitete Beitrittswille und der inzwischen proaktive Ansatz der Geberländer, etwa mittels der G7-Botschafter:innen, auf ein schnelleres Vorankommen hoffen", erklärt Kosmehl.

Ein großes Problem, das auch mit der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und weit verbreiteten Korruption verknüpft ist, stellt für die Ukraine ihre traditionell geringe Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen dar. Bei keinem anderen Beitrittskandidaten war oder ist ihr Bestand so gering wie in der Ukraine. Allerdings ist das auch das Ergebnis der bis 2022 fehlenden Beitrittsperspektive für das Land.

Um den EU-Beitritt der Ukraine und ihre wirtschaftliche Entwicklung voran zu bringen, empfehlen die Studienautoren eine Reihe von Maßnahmen. Zentral sind für sie dabei glaubhafte militärische Sicherheitsgarantien für das Land nach dem Ende des Krieges. "Nur so wird es gelingen, zumindest einen Teil der Geflüchteten zur Rückkehr zu bewegen. Gerade neue Investoren werden sich nur dann auf die Ukraine einlassen, wenn sie sich darauf verlassen können, von Angriffen verschont zu bleiben", fordert Kosmehl.

Der EU wird empfohlen, ausländischen Investoren in der Ukraine eine Versicherung gegen Kriegsrisiken anzubieten, um den Zufluss privaten Kapitals bereits vor Kriegsende und unmittelbar danach zu gewährleisten. Brüssel sollte dem Land auch dabei helfen, eine maßgeschneiderte Industriepolitik zur Förderung vorhandener industrieller Stärken zu entwickeln, etwa in den Bereichen IT, Landwirtschaft, bei erneuerbaren Energien oder im Verteidigungssektor. Die Vertiefung der Handelsbeziehungen und eine Verbesserung des ukrainischen Zugangs zum EU-Binnenmarkt werden ebenfalls gefordert.

ribbon Zusammenfassung
  • Ein EU-Beitritt ist laut einer aktuellen Studie machbar.
  • Das Land ist gemessen an den ökonomischen Beitrittskriterien im Großen und Ganzen kein Sonderfall und sollte wie die elf Staaten, die zwischen 2004 und 2013 EU-Mitglied wurden, erfolgreich integriert werden können.
  • Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und die Bertelsmann Stiftung forschten zum Thema.