80 Jahre Kriegsende - Rolle der Ukrainer oft übersehen
Das gelte auch für den Status als Opfer des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges, der nicht nur Juden und Russen, sondern eben auch Millionen Belarussen, Ukrainern und anderen zukomme, ergänzt der Universitätsprofessor des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien gegenüber der APA. "Für Österreich und Deutschland gilt, dass man die Nachkriegsversöhnung primär auf Russland bezog und die historische Verantwortung gegenüber der Ukraine bis 2022 und auch darüber hinaus hintangestellt wurde."
Außerdem "wurde die Rolle der ukrainischen Bevölkerung oft fälschlich pauschal mit Kollaboration oder faschistischen Gruppen im antisowjetischen Widerstand gleichgesetzt". Die Kollaboration der faschistischen Gruppen habe existiert. "Die mit Abstand größte Zahl ukrainischer Kämpfer" kämpfte aber in der Roten Armee gegen die NS-Besetzung. Russen und Ukrainer seien ebenso wie andere Völker der Sowjetunion in die Rote Armee eingezogen worden. Die Ukraine sei dabei als geografische Bezeichnung der Heeresgruppen präsent gewesen. Die Bezeichnung "Ukrainische Front" bedeute aber nicht, dass sie sich ausschließlich oder auch nur mehrheitlich aus Angehörigen dieser Nationalität rekrutierten, erläutert der Historiker.
In der Dritten Ukrainischen Front stellten die Russen den größten Anteil, der Anteil der Ukrainer war aber deutlich höher als an der sowjetischen Gesamtbevölkerung. In einzelnen Einheiten stellten die Ukrainer die Mehrheit. Generell sei der Anteil der Russen in den Offiziers- und Unteroffiziersrängen wesentlich höher gewesen als unter den einfachen Soldaten. Nach Daten des russischen Historikers Wadim Erlichman erlitt die ukrainische Bevölkerung außerdem mit mindestens 16,3 Prozent Todesopfern bezogen auf die Gesamtbevölkerung höhere Verluste als jene Russlands mit 12,7 Prozent, so Mueller.
Neutralität als "Überbleibsel"
In Österreich wurden die Gräber von rund 90.000 sowjetischen Kriegstoten unlängst im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung im Auftrag des Innenministeriums untersucht. Unter diesen Gräbern konnten 11.067 der Ukraine zugeordnet werden. Das entspreche 21 Prozent jener sowjetischen Kriegstoten, deren Herkunft eindeutig geklärt werden kann. Gemessen am Anteil der damaligen sowjetischen Gesamtbevölkerung von 16,5 Prozent seien Ukrainer damit "überproportional" an der Befreiung Österreichs beteiligt gewesen, hieß es bei einer Pressekonferenz im März.
Die Kriegs- und Nachkriegsverbrechen wirkten in Österreich heute weniger nach als in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die Traumata frisch waren, berichtet Mueller. Der Wiederaufbau Österreichs sei in einigen Bereichen von der Sowjetunion gefördert, in anderen behindert worden. "Ein Überbleibsel der sowjetischen Besatzung Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Neutralität, die den politischen Preis für die sowjetische Zustimmung zum Staatsvertrag darstellte."
Sieg der Roten Armee als "Staatsideologie"
Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde seit den 1960er-Jahren in der Sowjetunion und später im postkommunistischen Russland "als eine Staatsideologie ausgestaltet", erklärt Mueller weiter. Kritik am Hitler-Stalin-Pakt oder gar der Vergleich zwischen den Diktatoren Josef Stalin und Adolf Hitler stünden heute in Russland unter Strafe. "Dabei ist das Thema der Kollaboration nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland bedeutend. Das darf die enormen Opfer, welche die Bevölkerung beider und anderer Staaten im Zweiten Weltkrieg erlitten, nicht mindern."
"Übersehen" wurde laut dem Historiker, dass der Hitler-Stalin-Pakt eine wichtige Rolle für die Entfesselung des Krieges spielte und dass der sowjetische Diktator Stalin die Zusammenarbeit mit NS-Führer Hitler, aber auch den folgenden Verteidigungskampf gegen diesen zur Unterwerfung fremder Gebiete und Völker nützte.
Der Hitler-Stalin-Pakt und dann der Kampf und Sieg im Zweiten Weltkrieg ermöglichten es der Sowjetunion, bis dahin ausländische Gebiete wie die Westukraine und das Baltikum zu annektieren - unter anderem die bis dahin zu Polen bzw. der Tschechoslowakei gehörende West- und Karpatenukraine der Ukrainischen Sowjetrepublik anzuschließen, Osteuropa weitestgehend zu besetzen, seine Bevölkerungsstruktur durch Enteignung, Entmachtung, Deportation und teils Ermordung Zigtausender zu verändern und die ganze Region unter den Kommunismus und sowjetische Hegemonie zu unterwerfen, betont der Experte. Folgen davon waren die Bildung des "Ostblocks" und der Kalte Krieg.
Historische Wurzeln der Konflikte zwischen Russland und Ukraine
Die meisten Wurzeln der Konflikte zwischen Russland und der Ukraine gehen weiter als in den Zweiten Weltkrieg zurück. Das betreffe etwa die Eingliederung der Ukraine in das Zarenreich und die Zerstörung der Kosakenautonomie im 17./18. Jahrhundert, die Unterdrückung der ukrainischen Sprache im 19. Jahrhundert, die Eroberung der unabhängigen Ukraine 1918-20 und den versuchten Genozid unter Stalin, erläutert Mueller. Auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges bis etwa 1950 zurückverfolgen kann man aber die militärische Vernichtung des bewaffneten Arms der ukrainischen Nationalbewegung auf dem Boden der Ukraine.
Für Russland, das vor mehr als drei Jahren den Angriffskrieg gegen die Ukraine startete, sind die Siegesfeiern am Tag der deutschen Kapitulation gegenüber der Sowjetunion "eine Machtdemonstration gegenüber Europa". Seit 2014 - dem Jahr der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel - tauchten Slogans auf, dass man wieder "Nach Berlin" ziehen wolle, berichtet Mueller. In der aktuellen russischen Kriegspropaganda sei diese Drohung immer wieder zu finden. "Die Ukraine gedenkt hingegen am Tag der deutschen Kapitulation im Westen des Kriegsendes und möchte damit ihre Zugehörigkeit zum Westen unterstreichen."
(Das Interview führte Alexandra Demcisin/APA.)
Zusammenfassung
- 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Rolle der Ukraine oft übersehen, obwohl sie entscheidend zur Befreiung Österreichs beitrug.
- Ukrainische Fronten waren überproportional an der Befreiung Österreichs beteiligt, mit 21 % der sowjetischen Kriegstoten in Österreich, obwohl die Ukraine nur 16,5 % der sowjetischen Bevölkerung stellte.
- Die Ukraine erlitt mit mindestens 16,3 % Todesopfern höhere Verluste als Russland, das 12,7 % seiner Bevölkerung verlor.
- Die Nachkriegsversöhnung fokussierte sich primär auf Russland, während die historische Verantwortung gegenüber der Ukraine bis 2022 oft vernachlässigt wurde.
- Der Sieg der Roten Armee wurde in Russland zur Staatsideologie erhoben, während die Rolle der Ukraine oft fälschlich mit Kollaboration gleichgesetzt wurde.