Wiener Kongresse der Festwochen auf der Zielgeraden
Diesen schloss sich am Sonntag ein Block zu Rammstein-Frontmann Till Lindemann an. Zum Abschluss sollen am späten Sonntagnachmittag eine Jury und das Festwochen-Gremium "Rat der Republik" Schlüsse aus den Diskussionen ziehen.
In einer kurzen Eröffnungsrede war Rau am Freitagabend zunächst auf Kritik an der Werbelinie der diesjährigen Festwochen eingegangen. Der Werberat habe empfohlen, auf nackte Models zu verzichten. Auch sei er gefragt worden, warum die Models auf den Plakaten allesamt ein "V" auf der Stirn geritzt hätten und es sich um eine Sekte handle, erzählte er. Der Regisseur trug auf der minimalistischen Bühne mit Tischen und einem Rednerpult dabei nicht nur seine übliche militärische Montur mit dem Sticker der von ihm ausgerufenen "Republik der Liebe", sondern hatte dieses Mal auch selbst ein großes "V" auf der Stirn. Laut den Festwochen steht der Buchstabe für Liebe.
Grenzüberschreitung als Währung der radikalen Kunst
"Überschreitung, Selbst- und Fremdverletzung, Nacktheit, Unterwerfung und Befreiung, Party und Horror, das respektlose Spiel mit Symbolen, die Solidarität des Unvereinbaren, das ist die Währung der radikalen Kunst", erläuterte Rau. Er präsentierte gleichzeitig die Diskursveranstaltung auch im Rahmen des Versuchs, für seine "Republik der Liebe" Verhaltensregeln zu erarbeiten, bei denen es vielleicht weniger um den Schutz der Menschen, als um den Selbstschutz von Institutionen ginge.
Den restlichen Freitagabend gab es Programmatisches, aber auch Unterhaltsames. Schwänke aus einem langen Theaterleben gab die Schauspielerin Dolores Schmidinger und beschrieb dabei tyrannische Allüren von Wiener "Platzhirschen", die aus aktueller Sicht schwer problematisch wären: "Die Leute haben alle gesagt, der Fritz Muliar muss lieb sein. Der war aber ein Ekel, ein Kotzbrocken", erzählte sie.
"Jede Revolution hat ihren Preis"
Der schwedische Regisseur Markus Öhrn erzählte über eine traumatische Kindheit in einem von seinem schwer patriarchalen Großvater beherrschten Dorf. Zwar habe eine kleine Zahl privilegierter weißer Männer durch MeToo auch zu Unrecht ihre Posten verloren. Angesichts Tausender Frauen, aus deren Karrieren nichts geworden sei, weil sie nicht Schwänze von Filmregisseuren hatten lutschen wollen, sei das aber in Ordnung. "Jede Revolution hat ihren Preis", sagte er.
Die Journalistin Andrea Schurian begrüßte zwar, dass MeToo und das Offenlegen von Übergriffen für eine Sensibilisierung der Gesellschaft gesorgt hätten, sprach sich aber gegen überbordende Verbote von allem aus, das nicht den eigenen moralischen Ansprüchen genüge.
Kontra und pro "Gender-Gschisti-Gaschasti"
Vorschläge hatte sie auch für den Alltag: "Vielleicht würde es reichen, wenn wir ganz altmodisch einfach respektvoll miteinander umgehen, ohne Gender-Gschisti-Gschasti, ohne dass man die ganze Zeit überlegt, wie ich das jetzt am besonders richtigsten ausdrücken kann." Schurian selbst wurde am Samstagabend für diese Aussage kritisiert. Man habe es mit einem "rechten Backlash" zu tun, in der Geschlechtersprache als "Gschisti-Gschasti" diffamiert werde, erklärte Jurymitglied und Kuratorin Fariba Mosleh.
Zuvor waren am Samstag je drei Stunden lang ausgehend zwei prominente Fälle von Kunst und Verbrechen diskutiert worden. Zur Einschätzung der Kunst des Wiener Aktionisten Otto Muehl, der 1991 wegen "Unzucht mit Minderjährigen, Missbrauch einen Autoritätsverhältnisses, Vergewaltigung, Bestimmung zur Falschaussage und unerlaubter Weitergabe von Suchtgift" verurteilt wurde, kamen insbesondere auch ehemalige Bewohnerinnen der von ihm autoritär regierten, 1972 gegründeten "Kommune" am burgenländischen Friedrichshof zu Wort.
Kritik an österreichischer Kunstszene und MAK
Wie nachhaltig zahlreiche ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner durch ihre Jahre am Friedrichshof und durch Übergriffe Muehls traumatisiert sind, wurde in der verlesenen Erklärung einer Betroffenen deutlich. Die Rede war dabei nicht nur von jahrelangem Missbrauch und Vergewaltigung, sondern auch von der Verantwortung der "fast gesamten österreichischen Kunstszene", die seinerzeit eine Petition für seine frühere Haftentlassung Muehls unterschrieben hatte. Im Museum für angewandte Kunst (MAK) sei zudem ein schwarz-weißes Foto ausgestellt worden, in der sie als nacktes Kind zu sehen gewesen sei, und darüber ein Foto von Muehls Penis. Der für diese Ausstellung seinerzeit verantwortliche Museumsdirektor Peter Noever war am Wochenende, wie viele andere relevante Auskunftspersonen, verhindert.
Ida Clay und Zahra Gutsch, ebenso ehemalige Kinder der Muehl-Sekte, gründeten in Reaktion auf die ihrer Ansicht nach "empörende Werkschau Muehls" 2019 die Gruppe "Mathilda". Dass vielfach weiter von einer "Künstlerkommune" gesprochen und Muehl als Grenzüberschreiter und Tabubrecher, nicht jedoch als "pädokrimineller Straftäter und Sektenguru" bezeichnet werde, sehen sie im Zusammenhang mit dem Kunstmarkt.
Diskussionen über Wiener Aktionismusmuseum
Am liebsten würden sie Muehls Werk in einem Volkskundemuseum sehen. Dass das Wiener Aktionismusmuseum WAM kürzlich ein großes Foto mit einer nackten Frau plakatiert habe, der Muehl eine Papierblume ins Gesäß einführe, gehe einfach gar nicht.
Stellvertretend für den abwesenden Initiator dieses Privatmuseums, den Galeristen und Kunstsammler Philipp Konzett, war WAM-Direktorin Julia Moebus-Puck schließlich auch die Hauptadressatin von Kritik. Da man den Wiener Aktionismus auf die Zeit von 1957 und 1972 beziehe, stelle das Museum keine Werke aus, die durch das Leiden anderer Zustand gekommen seien. Was in Zukunft mit jenen Arbeiten vom Friedrichshof passieren solle, die Konzett aufgekauft und die derzeit in ihrem Museum inventarisiert würden, blieb dabei offen. Jurymitglied Sophia Süßmilch, eine Künstlerin, sprach wiederholt von insbesondere wirtschaftlichen Interessen in diesem Zusammenhang.
Gegen Verharmlosung von "Hands-off-Delikten"
Stärker mit rechtlichen Fragen und Kinderschutz beschäftigte sich der zweite Programmpunkt am Samstag. Ausgangspunkt war der Fall des Schauspielers Florian Teichtmeister, der 2023 nach dem Bekanntwerden strafrechtlich relevanter Vorwürfe, Darstellungen von Kindermissbrauch zu besitzen, vom Burgtheater gekündigt wurde. Es folgten Diskussionen, ob der Sisi-Film "Corsage", in dem Teichtmeister Kaiser Franz Joseph gespielt hatte, zu Recht als österreichischer Beitrag für den Auslandsoscar nominiert wurde oder nicht. Auch wurden Filme mit ihm in Folge nicht mehr ausgestrahlt.
In Ermangelung von Auskunftspersonen aus dem Burgtheater und involvierter Vertreter der Filmszene gab es wenig neue Informationen zum Umgang des Kulturbetriebs mit der Causa. Zu Wort kamen indes Expertinnen, die sich Tätern und Opfern beschäftigen. Die Leiterin der Kinderschutzzentren "Die Möwe", Hedwig Wölfl, kritisierte dabei den Mythos der Verharmlosung sogenannter "Hands-off-Delikten", laut dem der Konsum und Besitz von bildlichem Missbrauchsmaterial unproblematisch sei. "Es sind einerseits reale Kinder, die hier missbraucht werden und die selbst die KI wird mit Darstellungen gefüttert, die auch real Opfer und absolutes Leiden erzeugt haben", sagte Wölfl.
Medienrechtliches zu Teichtmeister und Lindemann
Für eine Einschränkung der Medienfreiheit plädierte indes Rechtsanwalt Rudolf Mayer, der Teichtmeister vor Gericht vertreten hatte. Er sei ein Gegner davon, dass in Medien über derartige Vorwürfe überhaupt berichtet werden dürfte, solange gegen eine Person nicht eine rechtskräftige Anklage eingebracht worden sei.
Fortgesetzt wurde eine medienrechtliche Debatte schließlich auch am Sonntagvormittag im Zusammenhang mit dem Fall des deutschen Rockstars Till Lindemann. Seine Rekrutierung junger weiblicher Fans für den Backstage-Bereich war medial kritisiert worden, strafrechtlichen Vorwürfe gegen den Sänger gibt es nicht. Als Auskunftsperson erklärte Lindemanns Medienanwalt Simon Bergmann, dass sich die Causa seines Mandaten eigentlich nicht für diese "Wiener Kongresse" eigne, Der Sänger sei kein Täter, betonte er. Ob sich Lindemann moralisch etwas zu Schulde habe kommen lassen, müsse jeder für sich beantworten.
Kommende Woche der Blick auf den Fall Pelicot
Auch wenn die Kongresse mit dem heutigen Tag zu Ende sind, steht kommenden Mittwoch noch ein weiteres Realitätsformat im Stile Raus bei den Festwochen an. Der aufsehenerregende Prozess gegen Dominique Pelicot, der seine damalige Frau Gisèle fast zehn Jahre lang immer wieder mit Medikamenten betäubt, vergewaltigt und in Internetforen anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten hatte, wird rekonstruiert. Am 18. Juni gibt es ab 21 Uhr in der Pfarrkirche St. Elisabeth eine auf sechs bis acht Stunden angelegte, rituellen Lesung aus den Verhandlungsprotokollen, die auch live im Internet gestreamt wird.
Zusammenfassung
- Die Wiener Festwochen gehen mit dem zweiten Teil der "Wiener Kongresse" in die Endphase und setzen einen Schwerpunkt auf Kunst, Missbrauch und MeToo.
- Am Samstag wurden die Fälle Otto Muehl, der 1991 wegen schwerer Sexualdelikte verurteilt wurde, und Florian Teichtmeister, gegen den 2023 strafrechtliche Vorwürfe bekannt wurden, ausführlich diskutiert.
- Ehemalige Mitglieder der Muehl-Kommune berichteten von langjährigen Traumatisierungen und kritisierten die Verharmlosung von Muehl als Künstler sowie die Verantwortung der österreichischen Kunstszene.
- Kinderschutzexpertinnen warnten vor der Verharmlosung sogenannter "Hands-off-Delikte" und betonten, dass Missbrauchsdarstellungen reales Leid verursachen.
- Am Sonntag wurde der Fall Till Lindemann thematisiert, wobei sein Anwalt betonte, dass keine strafrechtlichen Vorwürfe gegen den Musiker vorliegen, und zum Abschluss der Kongresse sollen Jury und Gremium der Festwochen ihre Schlüsse ziehen.