Was ist Liebe? - "All About Earthquakes" bei den Festwochen
Rau legt seine Rolle in Wien janusköpfig an. Einerseits möchte er die Festwochen als Forum politischer Auseinandersetzungen positionieren und lässt kaum ein aktuelles Diskursthema unkommentiert, andererseits pflegt er die Attitüde des Lausbuben, der sich herausnimmt, spielerisch alles ausprobieren zu dürfen. Analyse und Utopie, Realismus und Schamanismus wird scheinbar mit dem gleichen Ernst betrieben. Und genauso sieht diese zweieinviertelstündige Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum auch aus. Inszeniert hat jedoch ein anderer.
Der Deutsche Christopher Rüping (Jahrgang 1985) ist einer der wichtigsten Regisseure seiner Generation, mit einigen Auszeichnungen und bisher fünf Theatertreffen-Einladungen geadelt. Von seinem Münchner Mammut-Antikenprojekt "Dionysos Stadt" schwärmen Fans noch heute. Für sein neues Vorhaben hat er gleich 13 Spielerinnen und Spieler und einen Musiker rekrutiert. Wie realisiert man ein liebendes, wertschätzendes, hierarchieloses Arbeiten in der Gruppe? Diese Frage konnte die Theorie, die man sich vorgenommen habe, gleich einem Praxistest unterziehen, erzählt er im Programmheft. Blöd nur, dass der Gruppenentscheid, sich über die Warnungen eines Einzelnen hinwegzusetzen, am Ende ins Verderben führt.
Es beginnt jedoch heiter. Das Ensemble zeigt vor, wie man Erdbeben spielt. Das ist dann zum Lachen, wenn sich eine zypriotische Schauspielerin an ein Erdbeben in ihrer Kindheit erinnert, dem ihre vier Goldfische (die alle "Nemo" hießen) zum Opfer fielen, und vier Kollegen dabei die Rolle der Fische übernehmen. Und es ist dann nicht mehr zum Lachen, wenn das vierte der simulierten Erdbeben jenes ist, von dem Heinrich von Kleist in seiner Novelle "Das Erdbeben in Chili" erzählt, und das 1647 Santiago de Chile zerstörte.
Großartig: Elsie de Brauw und Moses Leo
Bei Kleist retten die verheerenden Erdstöße zwei Menschen, die für ihre Liebe büßen sollen: Das Mädchen Josephe wird wegen ihrer Beziehung zu ihrem Hauslehrer Jeronimo, der ein Kind entsprang, zur Hinrichtungsstätte geführt, Jeronimo ist dabei, sich ́zur gleichen Zeit im Gefängnis das Leben zu nehmen. Rüping besetzt das Paar mit Elsie de Brauw und Moses Leo, um dem Standesunterschied noch Differenzen von Hautfarbe und Alter (die bekannte niederländische Schauspielerin ist 64, er 24 Jahre jünger) hinzuzufügen. Die beiden machen das großartig - der Geschichte fügt es ebenso wenig Erkenntnisförderndes hinzu wie eine Parenthese, die arg didaktisch daherkommt.
Mit einem Mal wird nämlich aus der Narration ausgestiegen und eine Theoriestunde eingeschoben. Das Publikum wird gescholten, weil es mit Namen wie Haddaway (der deutsch-trinidadischer Sänger schuf 1992 mit seinem Song "What Is Love" einen Hit) und bell hooks (die 2021 gestorbene afroamerikanische Literaturwissenschafterin, die den Namen ihrer indigenen Urgroßmutter verwendete, befasste sich u.a. mit Feminismus, Rassismus und Klassismus) nicht viel anfangen kann und bekommt musikalischen wie kapitalismuskritischen Nachhilfeunterricht: Liebe ist kein Gefühl, sondern eine politische Strategie zur Überwindung der Gegensätze, erfährt man. Ihr Ziel ist es, das Gegenüber zu erhöhen, nicht zu erniedrigen.
17. Jahrhundert statt Gegenwart
Wie sich dieser Ansatz mit der heutigen Zeit verträgt, in der bekanntlich vom Oval Office des Weißen Hauses abwärts fast überall in den Präsidentenbüros und Staatskanzleien der Welt die gegenteilige Strategie verfolgt wird, erfährt man leider nicht. Denn das Bühnengeschehen verlagert sich nach einem Intermezzo im Dunkeln (ein erdbebenbedingter Stromausfall, vermutet man auf der Bühne), in dem der ansonsten rätselhafte, mit bunten Glasscheiben versehene Bühnenturm von Jonathan Mertz ein wenig zum Einsatz kommt, am Ende wieder in das Santiago des 17. Jahrhunderts. Und dort währte laut Kleist die Utopie der grenzüberwinden Liebe nur kurz. Aus dem - trotz Warnungen des "Sehers" der Truppe besuchten - Dankgottesdienst wird ein Blutbad. Die Liebenden werden als Auslöser für Gottes Zorn erschlagen.
"All About Earthquakes" will Denkanstöße geben. Und lässt doch alles beim Alten, anstatt es umzustürzen oder zumindest daran zu rütteln. Die Macht erträgt die Liebe nicht? Das ist keine neue Erkenntnis. Und wenig Frischwasserzufuhr für die bereits sehr welk gewordene Flower Power.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - "All About Earthquakes" nach Heinrich von Kleist und bell hooks, Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüm: Lene Schwind, Musik: Jonas Holle, Matze Pröllochs, Mit Elsie de Brauw, Danai Chatzipetrou, William Cooper, Martin Horn, Stacyian Jackson, Risto Kübar, Ole Lagerpusch, Moses Leo, Benjamin Lillie, Abenaa Prempeh, Matze Pröllochs, Damian Rebgetz, Nina Steils, Romy Vreden. Koproduktion der Wiener Festwochen mit dem Schauspielhaus Bochum im Volkstheater. Weitere Vorstellungen: 25.-27.5., 19.30 Uhr, www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Die Wiener Festwochen präsentieren 2024 unter dem Motto "Republik der Liebe" das Theaterstück "All About Earthquakes".
- Regie führt Christopher Rüping, der für die Inszenierung 13 Schauspielerinnen und Schauspieler sowie einen Musiker einsetzt.
- Das Stück basiert auf Kleists "Das Erdbeben in Chili" und bezieht Theorien der afroamerikanischen Autorin bell hooks ein.
- Elsie de Brauw (64) und Moses Leo (40) spielen das Liebespaar, wobei Alters- und Hautfarbenunterschiede thematisiert werden.
- Die Aufführung will Denkanstöße zur gesellschaftlichen Kraft der Liebe geben, bleibt aber laut Kritik inhaltlich konventionell.