Vergewaltigt oder nicht? Von Schirachs "Sie sagt. Er sagt."
Anders als bei dem 2017 vom Theater in der Josefstadt in den Kammerspielen gezeigten Stück "Terror", in dem vor Gericht verhandelt wurde, ob ein Kampfpilot, der ein entführtes Flugzeug mit 164 Insassen abgeschossen hat, um 70.000 Menschen zu retten, schuldig oder unschuldig ist, und dem Sterbehilfe-Drama "Gott" aus dem Jahr 2023 gibt es bei "Sie sagt. Er sagt" am Ende keine Publikumsabstimmung über Schuld oder Unschuld. Auch bei der Fernsehpremiere zu Beginn des Jahres endete das Drama ohne Urteil. Was geblieben ist: Von Schirach hat es auch diesmal geschafft, die Zuschauer durch Zeugenaussagen, das Hinterfragen von Beweismaterial und nicht zuletzt schlagkräftige Schlussplädoyers auf eine emotionale wie moralische Achterbahnfahrt zu schicken.
Sandra Cervik inszeniert das knapp zweistündige Drama rund um eine erfolgreiche TV-Moderatorin, die ihren Ex-Geliebten nach einem spontanen Wiedersehen der Vergewaltigung bezichtigt, in einem nüchternen Gerichtssetting. Walter Vogelweider hat dafür ein graues, nach vorne hin abgestuftes Podium geschaffen, an dem alle von der Richterin über die Anwälte bis zum Angeklagten hinter kleinen Pulten Platz nehmen.
Ganz oben thront Ulli Maier als Vorsitzende Richterin, die zunächst die Beweise aufnimmt und Expertinnen befragt: Da ist die mit Fachbegriffen hantierende Rechtsmedizinerin (Wiltrud Schreiner), die zwar Spermaspuren auf dem Kleid des Opfers festgestellt hat, aber zugeben muss, dass diese auch von einem früheren Treffen stammen könnten. Die etwas plumpe Kriminalhauptkommissarin (Larissa Fuchs) wird nach dem emotionalen Auftreten der Klägerin befragt, und die psychologische Sachverständige (Susa Meyer) erklärt schließlich lang und breit, dass jedes Opfer anders reagiert und es gar nicht so einfach zu bewerten ist, ob jemand lügt oder nicht. Fest steht lediglich: Nur sechs bis 18 Prozent der schweren Missbrauchsfälle werden überhaupt angezeigt.
Der erste Höhepunkt des fast zweistündigen Abends ist schließlich die Befragung der TV-Moderatorin Katharina Schlüter, der Silvia Meisterle eine fesselnde Mischung aus Abgeklärtheit und tiefer Verletzung verleiht. Ihre vier Jahre dauernde Affäre mit dem bekannten Vorstandsvorsitzenden Christian Thiede schildert sie als liebevoll und innig, die Trennung schließlich als einvernehmlich. Freiwillig habe sie ihn auch in seine Wohnung begleitet, nachdem man sich einige Monate nach der Trennung zufällig auf der Straße getroffen habe. Auch der folgende Kuss, das Entkleiden und der Beginn des Geschlechtsverkehrs seien gewollt gewesen - bis zu jenem Punkt, als sie nicht mehr wollte und er trotz heftiger Gegenwehr nicht aufgehört habe.
Warum sie dann drei Tage gebraucht habe, um Anzeige zu erstatten, will Martina Stilp als gestrenge Anwältin des Angeklagten wissen. Wie oft sie "Nein" gesagt habe und ob sie an jenem Tag überhaupt besagtes Kleid getragen habe. Ob es sich nicht vielmehr um einen Racheakt nach der Trennung handle. Dieser Verbissenheit gegenüber steht Joseph Lorenz als betont lässiger Rechtsanwalt Biegler, der der Kriminalistin schlampige Arbeit vorwirft und die sozialen Folgen der Anzeige für seine - nunmehr geschiedene, von der Öffentlichkeit schikanierte und arbeitslose - Mandantin aufzeigt. Warum hätte sie, die nun alles verloren hat, diese Geschichte erfinden sollen?
Bis kurz vor Ende der Verhandlung heißt es vor allem "Sie sagt." Der Angeklagte, bei der Premiere von Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger verkörpert (in weiterer Folge wechselt er sich mit Ulrich Reinthaller ab), schweigt. Bis er sich dann - zum Schrecken seiner Anwältin - doch entscheidet, zu reden. Wie er besagtes Treffen schildert, wirft nicht zuletzt durch Föttingers Darstellung vermeintliche Empathie plötzlich ein ebenso glaubwürdiges, aber gänzlich anderes Licht auf die Geschehnisse.
Dass am Ende kein Urteil fällt, ist einer dramaturgischen Finte von Schirachs geschuldet, die einen weiteren Verhandlungstag notwendig macht. Und so bleibt es am Ende dem Publikum überlassen, im Foyer darüber zu debattieren, wem denn nun zu glauben ist. Wie schon in "Terror" und "Gott" ist das auch in "Sie sagt. Er sagt" gar nicht so einfach. Und so endet ein bisweilen etwas zäher, dank der Schauspielleistungen von Meisterle, Lorenz, Stilp und Föttinger aber doch eindringlicher Abend in lang anhaltendem Applaus und anschließendem Gemurmel.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Sie sagt. Er sagt" von Ferdinand von Schirach. Uraufführung in den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt. Regie: Sandra Cervik, Bühne: Walter Vogelweider. Mit u.a. Ulli Maier, Joseph Lorenz, Martina Stilp, Silvia Meisterle, Herbert Föttinger und Susa Meyer. Kommende Termine: 8., 16.-18., 20., 24. und 30. September. www.josefstadt.org)
Zusammenfassung
- Ferdinand von Schirachs neues Stück 'Sie sagt. Er sagt.' wurde in den Kammerspielen uraufgeführt und thematisiert Vergewaltigungen durch vertraute Personen.
- Neun von zehn Opfer kennen ihre Täter, und nur sechs bis 18 Prozent der schweren Missbrauchsfälle werden angezeigt.
- Das Drama, inszeniert von Sandra Cervik, zeigt eine TV-Moderatorin, die ihren Ex-Geliebten der Vergewaltigung bezichtigt.
- Die Beweise und Zeugenaussagen sind ambivalent, und der Angeklagte schweigt bis kurz vor Ende der Verhandlung.
- Am Ende des Stücks fällt kein Urteil, was zu Diskussionen im Publikum führt.