toxic dreams entführten ins Irrenhaus Großkonzern
Basis für diesen tragikomischen Parforceritt lieferte der Wiener Performancetruppe ein Text von Georges Perec (1936-1982). Der französische Autor ist bekannt für seine originellen literarischen Verfahren. Er schrieb einen 1.300 Wörter langen Text als Palindrom, also von vorne wie hinten lesbar. In einem Roman verzichtete er vollständig auf die Verwendung des Buchstabens "e", in einem anderen wiederum ersetzte er sämtliche Vokale durch ein "e". 1968 entstand der posthum veröffentlichte satirische Ratgeber "Über die Kunst, seinen Chef anzusprechen und um eine Gehaltserhöhung zu bitten", an dessen englischer Übersetzung sich die Arbeit von toxic dreams anlehnt.
Autor und Regisseur Yosi Wanunu zerhackte die Vorlage und destillierte aus den inneren Stimmen des Angestellten sechs Figuren. Sie durchlaufen im wahrsten Sinn des Wortes, weil fast immer in Bewegung, in loopartigen Variationen stets aufs Neue das Ansinnen auf eine Lohnauffettung. Und jedes Mal wieder verirren sie sich in den undurchsichtigen komplexen Bedingungsschleifen großer Konzerne. Zig Möglichkeiten und Eventualitäten werden durchexerziert. Denn wie es weitergeht, hängt von vielen Dingen ab. An welchem Wochentag wagt sich der Angestellte zum Chef vor? Lässt ihn die Sekretärin durch? Haben die Kinder des Bosses die Masern? Ja, auch die kommen in personifizierter Form (Anna Mendelssohn) vor und schlagen - neben direkt angesprochenen Personen wie Mark Zuckerberg oder Elon Musk - die Brücke in die Corona-Gegenwart.
Das alles könnte ganz schön deprimierend sein, aber dank der vielen Slapstickeinlagen der Darstellerinnen und Darsteller u.a. zu Leroy Andersons herrlicher Komposition "The Typewriter" wird aus dem Stück ein unterhaltsamer ironischer Kommentar auf die ungeschriebenen Regeln der Konzernwelt. Das von Michael Strohmann besorgte Sounddesign - ein Geräuscheteppich aus Schreibmaschinengetippe, Spitzergeräuschen und Handyklingeltönen - stützt die teils schwindelerregende Textperformance.
Ein Kunstwerk für sich ist das Bühnenbild, das Erinnerungen an Jacques Tatis Filmklassiker "Playtime" wachruft. Paul Horn hat in die Mitte der zwischengenutzten und schon während der Wiener Festwochen erprobten Kulturlocation am Nordwestbahnhofgelände, die mit der toxic dreams-Produktion nun ihren regulären Spielbetrieb startete, eine Art Minimundus-Großraumbüro gebaut. Zwischen kleinen Arbeitskojen mit Bildschirm und Tastatur, geschrumpften Topfpflanzen, Familienfotos und auf einem zweifärbig gekachelten Spannteppich spielt sich diese choreografierte Groteske ab.
Das Publikum schaut - ähnlich wie um einen Boxring - von allen vier Seiten zu. Am Ende ist der Angestellte hochbetagt und noch einmal unternimmt er - inzwischen nur noch zum Kriechen fähig - einen Versuch, nur um sich erneut demütigen zu lassen. Nach 70 Minuten verlässt man dieses dramatisierte Organigramm, mit dem das brut nordwest einen gelungenen Einstand feiern konnte, und versteht ein bisschen besser, warum sich so mancher schon wieder ins pandemische Homeoffice zurücksehnt.
(S E R V I C E - "The Art of Asking your Boss for a Raise" von toxic dreams im brut nordwest, in englischer Sprache. Bühnenadaption und Regie: Yosi Wanunu. Mit Anat Stainberg, Isabella Händler, Florian Tröbinger, Theresa Martini, Stephanie Cumming, Markus Zett, Anna Mendelssohn. Weitere Termine: 2. sowie 4. bis 8. Oktober, jeweils 20 Uhr. Infos und Tickets: www.brut-wien.at)
Zusammenfassung
- Autor und Regisseur Yosi Wanunu zerhackte die Vorlage und destillierte aus den inneren Stimmen des Angestellten sechs Figuren.