APA/APA / Festwochen/Jean Louis Fernandez

Thomas Bernhards "Kalkwerk" als planmäßige Überforderung

06. Juni 2025 · Lesedauer 4 min

Herausfordernd hat die Regisseurin Séverine Chavrier das Unterfangen genannt, Thomas Bernhards frühen Roman "Das Kalkwerk" auf die Bühne zu bringen. Überfordernd muss man das Resultat nennen, das als Festwochen-Gastspiel einer 2022 entstandenen französischsprachigen Produktion bis Samstag im Museumsquartier zu sehen ist. Bei der Wien-Premiere am Donnerstag waren nach vier Stunden und zwei Pausen am Ende die Reihen recht gelichtet. Wer blieb, wurde mit einem Happy End belohnt.

Dieses Ende war nicht absehbar. Denn was die 1974 in Lyon geborene Leiterin der Comédie de Genève, die auch schon "Ritter, Dene, Voss" inszeniert hat, dem Publikum vorsetzt, ist an Düsternis und Dystopie kaum zu überbieten, ein Albtraum, in dem sie Schicht um Schicht übereinanderlegt, ohne auf Nachvollziehbarkeit zu achten, eine wahre Materialschlacht an Genres, Zitaten und Stilmitteln. Chavriers Version von "Kalkwerk" ist ein Steinbruch, in dem Trümmer aus den in uns zu gesellschaftlichen Konventionen und privaten Obsessionen verdichteten Erfahrungen herausgebrochen werden. Dass der dabei aufgewirbelte Staub die klare Sicht behindert, ist Programm.

Von den boshaften, doch stets die Form wahrenden bürgerlichen Kammerspielen, mit denen Claus Peymann hierzulande die Bernhard-Rezeption geprägt hat, ist nichts übriggeblieben. Das Endspiel, das an einem von der Außenwelt abgeschotteten Schauplatz zwischen einem Mann, der einen großen Essay über das Gehör verfassen will, aber es nicht schafft, ihn zu Papier zu bringen, und seiner von ihm betreuten gehbehinderten Frau stattfindet ("Der Verrückte und die Behinderte", beschreibt er das Paar in der Sichtweise der anderen), wird von Chavrier in eine Vielzahl von Vorgängen eingebettet, die die Perspektive weiten. "Ils nous ont oubliés" (Sie haben uns vergessen) zeigt nicht zwei Einzelne, sondern eine Vereinzelung, in der Hass, Ängste und Abhängigkeiten die Gemeinsamkeiten bilden.

Rund um die mit großer Intensität gespielten Protagonisten, die in einem Art Wohncontainer aus Gipskarton wohnen, der seinen Charakter durch Videoprojektionen ständig ändert und doch stets mehr an einen Bunker als an ein Tiny House erinnert, entfaltet sich ein permanentes Treiben. Eine Gruppe Maskierter tritt mal als Retter, mal als Abrissarbeiter auf, mal gleichen sie einer harmlosen Gemeinschaft an Nichtsesshaften, mal einer bedrohlichen Schlägertruppe, stets bereit zu provozieren und zuzuschlagen. Es gibt aber auch eine junge Frau, die um offenbar wenig Geld als Pflegerin engagiert wurde ("In einer Dreiecksbeziehung kann man Gewalt besser zeigen", begründete Chavrier ihre Idee im APA-Interview) und vom Mann ebenso traktiert wie hofiert wird, sowie einen Musiker am rechten Bühnenrand, der an Schlagzeug und Elektronik für Livemusik sorgt.

Setting eines Horrorfilms

Der Soundteppich ist nur eines von vielen Elementen, die gegen die Konzentration arbeiten und eine Stimmung erzeugen, in der man sich rasch verlieren kann. Sprache spielt nur momentweise eine Rolle, wenn Livevideos und Projektionen, echte Tauben und das Setting eines Horrorfilms ständig auf der Gefühlsklaviatur der Zuschauer spielen. Dunkel und bedrohlich wirkt der Wald, in dem ein Turm steht, der Hochstand und Überwachungsposten gleichermaßen sein könnte. Ein ganzes Waffenarsenal hängt an der Wand, und im niedrigen Kellergeschoß, in dem man sich nur kriechend fortbewegen kann, sind Manuskriptblätter und Mostvorräte gleichermaßen eingelagert.

Gewalt liegt ständig in der Luft, psychische und physische, und was hier gezeigt wird, hat in dem Wahn, sich mit allen Mitteln gegen die kommenden Bedrohungen von außen verteidigen zu müssen, mit Weltuntergangspropheten und Preppern ebenso zu tun wie in den ständigen Videobildern mit aktuellen Fragen des Einzelnen in der Gesellschaft. "Die Frage ist: Wer überwacht wen? Er seine Frau? Wir die beiden? Die Gesellschaft schaut durchs Schlüsselloch", hat das die Regisseurin im Vorfeld formuliert.

Weiße Weihnachten

Umso erstaunlicher, dass Séverine Chavrier den Abend versöhnlich zu Ende bringt. Die Bluttat, die eingangs von den Maskierten entdeckt wird, geschieht zum Schluss zwar (wobei in einer dramatischen Szene versucht wird, die Pflegerin zur (Mit-)Täterin zu machen), wird im weihnachtlichen Schneegestöber aber wieder aufgehoben. Die junge Frau bittet wegen der Witterungsverhältnisse beim Paar übernachten zu dürfen. Kein Problem, versichert die kurz zuvor Erschossene in aller Ruhe: "Gute Nacht. Hoffentlich hast Du keine Albträume." Leicht dürfte das nicht werden.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - "Ils nous ont oubliés. Sie haben uns vergessen" nach dem Roman "Das Kalkwerk" von Thomas Bernhard, Regie: Séverine Chavrier, Bühne: Louise Sari, Mit Aurélia Arto, Adèle Bobo-Joulin, Laurent Papot, Marijke Pinoy und Alexandre Babel (Musik), Gastspiel im Rahmen der Wiener Festwochen in der Halle E im Museumsquartier, Weitere Vorstellungen: 6. und 7. Juni, Publikumsgespräch am Freitag nach der Vorstellung. www.festwochen.at)

Zusammenfassung
  • Die französischsprachige Produktion von Thomas Bernhards "Kalkwerk" unter der Regie von Séverine Chavrier dauert vier Stunden und wurde am Donnerstag im Museumsquartier uraufgeführt.
  • Viele Besucher verließen die Vorstellung vorzeitig, sodass die Reihen am Ende deutlich gelichtet waren.
  • Chavriers Inszenierung ist geprägt von einer Materialschlacht an Genres, Zitaten und Stilmitteln, die gezielt auf Überforderung und Düsternis setzt.
  • Im Zentrum stehen Themen wie Vereinsamung, Gewalt und gesellschaftliche Überwachung, dargestellt durch ein ständig verändertes Bühnenbild und eine Vielzahl von Figuren.
  • Trotz des düsteren Tons endet das Stück überraschend versöhnlich mit einem "Happy End" und einer Einladung zum Übernachten im weihnachtlichen Schneegestöber.