Tanzpremiere "Thikra": Khan bringt den Orient ins Opernhaus
Die im Jahr 1888 eröffnete Opéra Comédie ist ein protziges, prunkvolles Haus im italienischen Stil nach Pariser Vorbild: mit Holzstühlen aus weinrotem Samt, einem prächtigen, roten Vorhang, verschnörkelten Goldverzierungen und einem monumentalen Kronleuchter. Der Parkettboden knarrt, so alt ist er, und genau in diesem bürgerlich-europäischen Ambiente ließen 14 Tänzerinnen Bharatanatyam und westlichen zeitgenössischen Tanz zusammenkommen. Die saudische Künstlerin Manal AlDowayan, die Bühnenbild und Kleider in Erdtönen schuf, platzierte eine Skulptur auf der Bühne, ein in rotes Licht getauchter Felsen - eine Umgebung, eine Wüste, eine Art "heiligen" Raum.
Denn Khan taucht diesmal tief in die mythologischen und rituellen Schichten der Wüstenlandschaft des Wadi AlFann in AlUla ein, der antiken arabischen Stadt an der Gewürz- und Weihrauchstraße, die Indien, Arabien und Europa verband. "Thikra" bedeutet "Erinnerung" und ist - so will es Khan verstanden wissen - das einzige, was uns Menschen in einer zerrissenen Welt verbindet.
Die Tanzwurzeln des britisch-bengalischen Künstlers liegen im Kathak, einem der ältesten Formen der indischen klassischen Tänze. Es ist ein Stil, der sich durch mathematisch komplexe, rhythmische Beinarbeit, Drehungen, fließende Arm- und Handbewegungen sowie dynamische Kontraste zwischen Geschwindigkeit und Starre auszeichnet.
Dieser Hintergrund durchdringt all seine zeitgenössischen Stücke ("Zero Degrees", "Xenos"), auch das neue, für das er zum ersten Mal ausschließlich Frauen besetzt hat, die ihre Arme kreisen, gen Himmel strecken, und um Kopf und Oberkörper schneiden. Ihre Hände sind leicht und ihre langen, schwarzen Haare fliegen durch die Luft. Es ist die letzte Show der Kompanie nach ihrer Gründung vor 25 Jahren, aber es ist keineswegs das Ende von Akram Khan.
Ohropax am Eingang
Er versteht sich selbst als einen Geschichtenerzähler, aber die Erzählung ist vermutlich nicht die Stärke des Stücks. Sie entsteht in Bruchstücken, und die meiste Zeit über ist man sich nicht sicher, was passiert. Eine zentrale matriarchale Figur erweckt eine leblose Frau zum Leben. Geister werden heraufbeschworen. Das unheilvolle Sounddesign von Gareth Fry ist so gewaltig, am Eingang werden Ohropax ausgeteilt, aber man sollte die Wucht der Trommeln, die man bis in den Brustkorb hinein spürt, schon erleben. Alles ist so schön anzusehen, dass man fast über eine Stunde lang die Luft anhält - am Ende dann ein tiefes Ausatmen und tosender Applaus.
(Von Marietta Steinhart/APA)
(S E R V I C E - "Thikra - Night of Remembering" in der Opéra Comédie. Regie und Choreografie: Akram Khan, Visuelle Leitung, Kostüm und Szenografie: Manal AlDowayan, Narratives Konzept: Manal AlDowayan und Akram Khan, Musikkomposition und Klanglandschaften: Aditya Prakash, Sounddesign: Gareth Fry, Lichtdesign: Zeynep Kepekli, Kreative Mitarbeit und Coaching: Mavin Khoo, Dramaturgie: Blue Pieta, Probenleitung: Charlotte Pook, Angela Towler und Chris Tudor, Tänzerinnen: Pallavi Anand, Ching-Ying Chien, Kavya Ganesh, Nikita Goile, Samantha Hines, Jyotsna Jagannathan, Mythili Prakash, Azusa Seyama Prioville, Divya Ravi, Aishwarya Raut, Mei Fei Soo, Harshini Sukumaran, Shreema Upadhyaya, Jin Young Won, Kimberly Yap, Hsin-Hsuan Yu. https://www.montpellierdanse.com, https://www.impulstanz.com)
Zusammenfassung
- Der britische Choreograf Akram Khan feierte am Sonntagabend mit 14 Tänzerinnen und der neuen Show "Thikra: Night of Remembering" beim 45. Tanzfestival in Montpellier eine umjubelte Premiere in der historischen Opéra Comédie von 1888.
- Die Österreichpremiere findet am 29. Juli im Wiener Burgtheater beim ImpulsTanz Festival statt und markiert zugleich die letzte Produktion der Kompanie nach 25 Jahren.