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Stemanns "Ödipus Tyrann" im Volkstheater als Theaterereignis

Heute, 09:47 · Lesedauer 3 min

Radikal reduziert und doch reichhaltig, gemeinsam geflüstert und allein gebrüllt, nah am Text und doch auch ganz weit weg: Mit der Übernahme von Nicolas Stemanns Inszenierung von Sophokles' "Ödipus Tyrann" aus dem Schauspielhaus Zürich hat Volkstheaterdirektor Jan Philipp Gloger dem Wiener Publikum ein großes Geschenk gemacht. Mit Alicia Aumüller und Patrycia Ziółkowska tragen zwei außergewöhnliche Frauen einen Abend, der die Schuldfrage eines Mannes verhandelt. Ein Ereignis.

Dass Aumüller, die mit Beginn der Saison von Zürich ans Volkstheater gekommen ist, und Ziółkowska diesen Abend bereits seit drei Jahren gemeinsam spielen, wird schon deutlich, wenn die beiden Frauen in schwarzen Kleidern die Vorderbühne betreten und sich im wissenden Blick vereint anschicken, den von Stemann vorangestellten Prolog aus der Sicht von Ödipus' Töchtern Antigone und Ismene vorzutragen (die im Original nicht vorkommen). Aus ihnen spricht Enttäuschung: "O Ödipus / Dass du uns Vater warst, das wussten wir / Dass auch Bruder du uns hättest sein können / Davon haben wir nichts gemerkt", heißt es in dieser Anklage aus der Nachwelt, irgendwo zwischen damals und heute, zwischen Theben und dem Theaterraum.

Stemann lässt die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum konsequent verschwimmen, macht das Publikum gleichsam zum geplagten Volk Thebens wie zum Komplizen der beiden Darstellerinnen. Vor einer schwarzen Mauer, die sich erst im Finale heben wird, um auch das Publikum zu blenden, fließen drei sich über die gesamte Bühnenbreite erstreckende Edelstahl-Stufen in den Saal, auf denen sich das berühmte Familiendrama in den folgenden 100 Minuten entfalten wird. Mit Mikrofonen ausgestattet schwärmen Aumüller und Ziółkowska auf die Zuschauertribüne aus, flüstern die Chor-Passagen vor den Toren Thebens, rufen König Ödipus an, den von Kreon überbrachten Orakelspruch wahr zu machen und Laios' Mörder zu finden. Dabei schlüpfen die beiden Darstellerinnen in alle Rollen, geben den Seher Tiresias genauso wie den Diener, den Boten oder den Priester.

Besonders die sich in maximale Verzweiflung schraubenden Szenen zwischen Ödipus, den Ziółkowska mit verkehrt aufgesetzter Filz-Krone als sich krümmenden Tyrannen gibt, und der um Fassung ringenden Iokaste (Aumüller im altrosa Taftrock) entfalten eine Intensität, die im ganzen Raum spürbar wird. Wie lange Ödipus hier die Augen vor der Wahrheit verschließt, sich in mehreren Erkenntnisschleifen gegen die Vorsehung wehrt und schließlich von der so sehr gewollten Unschuld in die unendliche Schuld des Vatermörders und Mutterliebhabers hineingeworfen wird, kostet das starke weibliche Duo in jeder Sekunde aus. Am Ende findet Stemann schließlich starke Bilder für die Resignation der beiden Liebenden, nunmehr als Mutter und Sohn enttarnt und am Ende ihrer Kräfte.

Von der Verdrängung zur Verantwortung

Dieser "König Ödipus", den Stemann in seiner Neuübertragung im Titel zum Tyrannen macht, spiegelt das seit Jahrtausenden unveränderte Bedürfnis, einen Schuldigen für den Zustand der Welt zu finden. Doch diesen einen Schuldigen gibt es nicht. Zeugen sind Mitwisser, Zweifler stellen die falschen Fragen - oder überhaupt keine. Am Ende verwandelt sich Verdrängung in Verantwortung. Lang anhaltender Applaus für einen außergewöhnlichen Theaterabend.

(S E R V I C E - "Ödipus Tyrann" von Sophokles im Volkstheater, Übernahme aus dem Schauspielhaus Zürich. Regie, Bühne, Musik und Neuübertragung: Nicolas Stemann, Kostüm: Marysol del Castillo und Dorothea Knorr, Lichtdesign: Carsten Schmidt (Zürich), Ines Wessely. Mit Alicia Aumüller und Patrycia Ziółkowska. Weitere Termine: 17. und 29. November, 5. Dezember, jeweils um 19.30 Uhr. www.volkstheater.at)

Zusammenfassung
  • Die Inszenierung von Nicolas Stemann, übernommen aus dem Schauspielhaus Zürich, bringt mit Alicia Aumüller und Patrycia Ziółkowska ein intensives und minimalistisch inszeniertes Theaterereignis ans Wiener Volkstheater.
  • Das Stück dauert 100 Minuten und zeichnet sich dadurch aus, dass die beiden Darstellerinnen alle Rollen übernehmen, das Publikum aktiv einbinden und seit drei Jahren gemeinsam auf der Bühne stehen.
  • Weitere Aufführungen finden am 17. und 29. November sowie am 5. Dezember jeweils um 19:30 Uhr statt.