Sorokins "Schneesturm" trotzte in Salzburg der Sommerschwüle
Besonders herzlichen Schlussapplaus erhielten Regisseur Kirill Serebrennikov und Autor Wladimir Sorokin. Die beiden mittlerweile im Exil lebenden Künstler gelten als scharfe Kritiker des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin, der wenige Stunden zuvor mit seinem Gipfeltreffen in Alaska als Kriegsherr sein erfolgreiches Comeback auf der Bühne der Weltpolitik geben durfte. Die spezielle Russland-Connection verdankt sich der entlassenen Schauspielchefin Marina Davydova, die als eine der frühesten Förderinnen von Serebrennikov gilt und auch mit einem Essay über ihn im Programmheft vertreten ist.
Die 2010 geschriebene Novelle "Der Schneesturm", 2012 beim Erscheinen der deutschen Übersetzung als Roman vermarktet, ist ein fantastischer Mix aus alten russischen Erzählmotiven und Science-Fiction. Der Arzt Dr. Garin versucht sich unter widrigsten Bedingungen in ein einsames Dorf durchzuschlagen, wo eine Epidemie wütet und das Gegenmittel sehnlich erwartet wird. Die Zeit ist kostbar. Ein einziger Kutscher ist bereit, mit seinem von winzigen "Pferdis" angetriebenen Schneemobil die Fahrt durch die Nacht zu wagen.
Serebrennikov hat für sein Salzburg-Debüt nicht nur mit August Diehl als fanatisch auf Tempo drängenden Arzt und Filipp Avdeev als stoischen Kutscher Perkhusha zwei tolle Darsteller zur Verfügung, die den Wahnsinn dieses Abenteuers mit ganzem Einsatz verkörpern (wobei der nicht deutsch sprechende Avdeev seinen Text phonetisch lernte - eine besondere Leistung!), sondern greift auch auf Kollegen aus dem früheren Gogol-Center Moskau zurück. Dass die Mitglieder der neben dem Düsseldorfer Schauspielhaus als Koproduzenten auftretenden KIRILL & FRIENDS Company eine eingespielte Truppe sind, die Tanz, Schauspiel und Musik selbstverständlich zu verbinden imstande sind, merkt man sofort.
Serebrennikov setzt in seiner Bühnenlösung auf eine ringelspielähnliche Kutschen-Plattform, die daran erinnert, dass nicht nur Ulrich Rasche mit seinen "Maria Stuarda"-Scheiben den Dreh heraus hat und zwei Raumfahrer-ähnliche Glashelme, die Live-Bilder der Gesichter von Kutscher und Passagier in Großformat projizieren. Auf einem langen, laufstegartigen Tisch an der Rampe kann u.a. eine ganze Winterlandschaft ausgerollt werden, in der - ebenfalls per Livecam übertragen - die Schlittenfahrt durchs Winter-Horrorland in Miniatur nachgestellt wird.
Dreistündige Fahrt nach "Langenweiler"
Serebrennikov hat in seiner Textfassung eindrucksvolle Romanepisoden wie die Begegnungen mit einer hitzigen Müllerin, einer Drogengang, die Dr. Garin seinen ersten Trip mit einer pyramidenförmigen Droge beschert, sowie der Leiche eines Riesen, in dessen Nasenloch eine Kutschenkufe stecken bleibt, behalten und zu eindrucksvollen Szenen ausgebaut. Aus dem Buch vermisst man etwa den "lebendgebärenden Filz", aus dem rasch ein schützendes Zelt wachsen kann, oder das holografisches Bilder-Radio mit fortschrittlicher Technologie und vorsintflutlichem Programm.
Dennoch zieht sich die von Dauerschneefall begleitete Kutschenfahrt ganz schön, denn aus der Aneinanderreihung von Episoden wird kein zwingendes Ganzes. Im Buch heißt Dr. Garins Ziel Dolgoje, auf der Bühne wird daraus "Langenweiler". Während so mancher Zuschauer sich schon nach einer Stunde an diesem Ziel wähnt, dauert es in der Inszenierung ganze drei Stunden, bei denen am Ende alles scheitert und den Chinesen in die Hände fällt.
Das klingt erstaunlich aktuell - doch vordergründig politisch ist der Abend nicht. Die Metapher des Lebens, an dem der Weg bereits das Ziel ist, und das Überwinden von Schwierigkeiten zugunsten einer besseren Welt eine Lebensaufgabe darstellt, vermittelt sich dagegen unmittelbar. Darauf beharren nämlich Sorokin wie Serebrennikov: Poesie und Kunst dürfen auch in Zeiten des Kriegs nicht von ihrer Aufgabe als moralische Richtschnur lassen und sollen sich nicht unmittelbar politisch einschalten. So gesehen ist dieser "Schneesturm" wohl ein Erfolg. Allerdings mehr ein Augenblickserfolg: Bei fast 30 Grad Außentemperatur verdunstet selbst der fantasievollste Bühnenschnee in Windeseile.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - "Der Schneesturm" nach Wladimir Sorokin, Bühnenfassung von Kirill Serebrennikov, Deutsch von Andreas Tretner, eingerichtet von Rustam Akhmedshin. Regie, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov, Bühne und Kostüme: Vlad Ogay, Musik und Komposition: Alexander Manotskov, Musikalische Leitung: Daniil Orlov, Choreografie: Evgeny Kulagin, Ivan Estegneev, Mit August Diehl, Filipp Avdeev, Sonja Beißwenger u.a., Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus und KIRILL & FRIENDS Company auf der Perner-Insel, Hallein. Premiere: Sa., 16.8., 19 Uhr. Weitere Aufführungen: 18., 20., 22., 23., 24., 26.8., Premiere in Düsseldorf: 12.9. www.salzburgerfestspiele.at)
Zusammenfassung
- Die Bühnenadaption von Wladimir Sorokins 'Schneesturm' feierte am 16. August 2025 auf der Perner-Insel Premiere und wurde vom Publikum mit langem Applaus gefeiert.
- Regisseur Kirill Serebrennikov und Autor Wladimir Sorokin, beide als Kritiker von Präsident Putin bekannt, standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
- Die Koproduktion der Salzburger Festspiele, des Düsseldorfer Schauspielhauses und der KIRILL & FRIENDS Company überzeugte mit innovativer Bühnentechnik wie einer ringelspielähnlichen Kutschen-Plattform und Live-Kamerabildern.
- In der dreistündigen Aufführung spielten August Diehl und Filipp Avdeev die Hauptrollen, wobei Avdeev seinen deutschen Text phonetisch lernte.
- Die Inszenierung bleibt trotz aktueller politischer Bezüge vordergründig unpolitisch und unterstreicht die Rolle von Kunst und Poesie als moralische Richtschnur.