APA/APA/Burgtheater/Marcella Ruiz Cruz

Soliman und Antigone: "Katharsis" im Akademietheater

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Wie viel kann man auf einmal wollen? Eine mögliche Antwort liefert seit Samstagabend das britisch-irische Duo Dead Centre, das seit der Ära Kušej verlässlich einmal pro Saison seinen experimentellen Theaterzugang in Wien präsentiert, mit "Katharsis" im Akademietheater. Diesmal im Talon: Motive aus "Unrast" der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, Dekolonialisierung, griechische Mythologie und - wie stets - die Frage: Was erwarten wir von Theater?

In den vergangenen Jahren haben Ben Kidd und Bush Moukarzel sich am Burgtheater Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein und dem Transhumanismus gewidmet. Diesmal ist Angelo Soliman (1721-1796) dran, der zu trauriger Berühmtheit gelangte, als der ehemalige Sklave, spätere Kammerdiener in Wien und schließlich Freimaurer nach seinem Ableben konserviert wurde, um unter dem österreichischen Kaiser Franz II. als Kuriosität im Vorgänger des Naturhistorischen Museums ausgestellt zu werden, bevor seine - mittlerweile auf den Dachboden geschafften - Überreste 1848 bei einem Brand vernichtet wurden.

Und hier kommt Tokarczuk ins Spiel, die in ihrem fragmentarischen Roman "Unrast" (2009) unter anderem Solimans Tochter Josephine in Briefform zu Wort kommen lässt, die Kaiser Franz II. inständig darum bat, ihren Vater doch beerdigen zu dürfen. Nicht beerdigen dürfen: Das klingt doch nach Antigone, haben sich Dead Centre gedacht. Und so ist es auch eine Szene aus Sophokles' Drama, die am Anfang dieses Nicht-Tokarczuk-Abends steht. Die Doppelrolle der Antigone/Josephine gibt Safira Robens mit viel Inbrunst, während Ernest Allan Hausmann mit beeindruckender Wandlungsfähigkeit die Vorlage für jenen Leichnam ist, der in den kommenden 90 Minuten auf dem zentral platzierten Tisch (Bühne: Jeremy Herbert) seziert werden wird, dessen Anatom er aber gleichzeitig gibt.

Und so folgen Kapitel wie "Das Herz", "Die Lunge" oder "Die Haut", in der die Sektion unter Beobachtung einer Live-Kamera vonstatten geht, während Josephine auf einer Parallelebene u.a. beim Kaiser höchstpersönlich vorspricht, um die museale Ausstellung ihres Vaters zu verhindern. Dabei gibt es bei aller Brutalität auch komische Momente - etwa wenn die gesamte Requisite vom Stuhl bis zum Kerzenleuchter - dem offenen Bauchraum des Toten entnommen wird. Anatomietheater im besten Sinne.

Parallel gibt es auch einen Auftritt des (ebenfalls) Freimaurers Mozart (Philipp Hauß) sowie von Solimans Ehefrau (Katrin Grumeth), die auch Antigones Schwester Ismene verkörpert. Johannes Zirner überzeugt vor allem in der Rolle des Simon Eberle, Direktor des "k.k.physikalisch-astronomischen Kunst- und Natur Tier-Kabinetts".

Am Stärksten wird dieser an Schock-Momenten für schwache Mägen reiche Abend dann, wenn es um die Kernfragen geht. Warum wird Soliman ausgestellt und nicht etwa Franz II? Aufgrund der "Andersartigkeit", kommt die Antwort. Aber woher stammt der Begriff "weiß" eigentlich? Hier findet Dead Centre die Antwort ausgerechnet im Theater selbst. Diese Erkenntnis kommt - wie so viele andere Szenen - jedoch reichlich didaktisch daher, bevor der Abend schließlich in den Kitsch entgleitet, wenn die Seele Solimans am Ende zurück in den Körper krabbeln darf. Da stellt sich nur mehr die Frage: Was wurde aus Antigone, während das Wiener Publikum hier gerade seine Katharsis erlebt hat?

(S E R V I C E - "Katharsis" nach Geschichten aus Olga Tokarczuk, Deutsch von Victor Schlothauer. Akademietheater. Regie: Dead Centre, Bühne: Jeremy Herbert, Kostüme: Mirjam Pleines. Mit Ernest Allan Hausmann, Safira Robens, Katrin Grumeth, Philipp Hauß und Johannes Zirner. Weitere Termine: 21., 26. und 31. März sowie am 6. und 25. April. www.burgtheater.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Eine mögliche Antwort liefert seit Samstagabend das britisch-irische Duo Dead Centre, das seit der Ära Kušej verlässlich einmal pro Saison seinen experimentellen Theaterzugang in Wien präsentiert, mit "Katharsis" im Akademietheater.
  • Anatomietheater im besten Sinne.
  • (S E R V I C E - "Katharsis" nach Geschichten aus Olga Tokarczuk, Deutsch von Victor Schlothauer.
  • Weitere Termine: 21., 26. und 31. März sowie am 6. und 25. April.

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