Richard Weihs über "Zertrümmerte Erinnerung am Semmering"
Zuletzt haben sich zwei Romane mit der bewegten und bewegenden Geschichte des Semmering beschäftigt. In "Die letzten Tage" rekonstruierte Martin Prinz anhand von Volksgerichtakten das in den letzten Kriegstagen in der Gegend wütende NS-Mordregime. Für "Am Semmering" nahm Tanja Paar die Geschichte ihrer Großeltern zum Ausgangspunkt einer literarischen Fiktion, die von den Jahren 1928 bis 1945 erzählt. "Ich glaube nicht an Zufall", kommentiert Weihs im Gespräch mit der APA diese Koinzidenz. "Die Zeit ist offenbar reif."
Das war sie lange nicht. Als der 1956 geborene Wiener Autor, Musiker und Kabarettist Richard Weihs versuchte, das Erbe seiner Familie, das von seiner Großtante Henriette Weiss gegründete und 1938 beschlagnahmte Sanatorium in Breitenstein, zu bewahren, stieß er nicht nur auf haarsträubende bürokratische und politische Widerstände, sondern auch auf einen blinden Fleck in der Erinnerung, den man vor Ort offenbar bewusst bewahren wollte.
Kühn wurde die Behauptung aufgestellt, Arisierungen habe es in dieser Gegend gar nicht gegeben. Das glatte Gegenteil ist der Fall, wie nicht nur die erst 1960 abgeschlossene Restituierung des zu dem Zeitpunkt bereits halb verfallenen Sanatoriums, sondern auch viele Akten beweisen. Akten, die Jahrzehnte nicht aufgearbeitet wurden. "In allen anderen Regionen hat man das längst gemacht. Als ich die Reste des Sanatoriums aufgrund eines behördlichen Bescheids abbrechen lassen musste und auf dem Grundstück stand, auf dem gar nichts mehr daran erinnerte, hab ich mir gedacht: Das kann es jetzt nicht sein! Und ich hab begonnen zu recherchieren."
"Ab 2020 quasi hauptberuflich daran gearbeitet"
2006 war das, und Weihs vertiefte sich in Archiven, Bibliotheken und im Internet. "Ab 2020 hab ich dann quasi hauptberuflich daran gearbeitet." 2024 erschien ein über 440-seitiges Buch, in dem er die Geschichte seiner Familie und des Sanatoriums erzählte, von Enteignung, erkämpfter Rückgabe und erzwungener Planierung, sowie von Ignoranz und Bösartigkeit, die seinem Vater und später ihm begegnete. "Zertrümmerte Erinnerung am Semmering. Eine jüdische-österreichische Geschichte" hieß das Buch, das auf viel Resonanz stieß. Schon damals war klar, dass es einen zweiten Band geben müsse, einen, der die Perspektive auf die ganze Region weitet.
"Bevor sich das jüdische Großbürgertum seine Villen gebaut hat, hat es hier ja nicht viel gegeben. Später wurde rund ein Drittel der Villen am Semmering arisiert. Wenn sie überhaupt zurückgestellt wurden, dann waren sie oft völlig ausgeräumt - zuerst unter den Nationalsozialisten, dann von den russischen Besatzern und am Ende von der örtlichen Bevölkerung. Da hat es kein Pardon gegeben!" In Band zwei liefert er materialreich den Beweis, dass das, was er selbst erlebt hat, kein Einzelfall war.
Akten oft "leider, leider" in Verlust geraten
Einzigartig ist allerdings die Hartnäckigkeit, die Weihs in der Angelegenheit entwickelt hat. Er ließ sich nicht abwimmeln, nahm auch die immer wiederkehrende Auskunft, dass "leider, leider" ausgerechnet die betreffenden Akten "durch Kriegseinwirkung in Verlust geraten" seien, nur als neuen Ansporn und förderte immer wieder Erschreckendes zutage, auch über das Weiterwirken von Personen und Mentalitäten. Er setzte zwar die Umbenennung einer nach einem NS-Verbrecher benannten Straße am Semmering durch, doch gegen seinen neuen Namensvorschlag, der einen der enteigneten jüdischen Mitbürger gewürdigt hätte, wehrte sich die Gemeinde. Heute heißt die Verkehrsfläche "Welterbeweg".
Um dem Status des Semmerings als Welterbe gerecht zu werden, müsse man sich zu der Geschichte der Region auch sichtbar bekennen, meint Richard Weihs. Dazu gehören Gedenkorte im öffentlichen Raum. Erste Initiativen seien dafür gesetzt, berichtet der Autor, der nun selbst auch wieder häufiger am Semmering ist: Ein Nebengebäude des Sanatoriums, das dem Verfall bereits preisgegeben schien, hat er in jahrelanger mühevoller Arbeit instand gesetzt und dabei "einen schweren Baumarktkoller aufgerissen". Seine Mutter, die sich jahrelang für Rückgabe und Renovierung eingesetzt hatte, erlebte gerade noch die Fertigstellung der Arbeiten.
"Auf meinem Material können nun Historiker aufbauen"
Heute hat Weihs nicht nur die Bauarbeiten zu einem guten Ende gebracht. Mit der Vorstellung seines zweiten Buches habe er nun seinen Teil zum Versuch eines wieder Zusammensetzens der "zertrümmerten Erinnerung am Semmering" geleistet, meint er. "Ich bin sehr froh, dass ich das endlich abgeschlossen habe. Auf meinem Material können nun studierte Historiker aufbauen. Es gibt noch jede Menge zu erforschen. Ich selbst werde das nicht mehr tun." Nachsatz: "Aber ich bin gerne dabei behilflich."
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Richard Weihs: "Zertrümmerte Erinnerung am Semmering. Band 2: Die kuriose Geschichte einer Kur-Region", Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, 560 Seiten, 40 Euro, ISBN 978-3-903522-35-0, Buchpräsentation: 30.9., 18.30 Uhr, im Jüdischen Museum Wien, Wien 1, Dorotheergasse 11; Richard Weihs: "Zertrümmerte Erinnerung am Semmering. Band 1: Eine österreichisch-jüdische Geschichte", Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, 448 Seiten, 36 Euro, ISBN 978-3-903522-22-0)
Zusammenfassung
- Richard Weihs präsentiert am 30. September 2024 im Jüdischen Museum Wien den zweiten Band seines Buches "Zertrümmerte Erinnerung am Semmering" mit 560 Seiten, das die Geschichte der Arisierung und Restitution in der Kurregion Semmering dokumentiert.
- Rund ein Drittel der Villen am Semmering wurde während der NS-Zeit arisiert und nach dem Krieg selten vollständig restituiert, wie zahlreiche Akten und persönliche Erfahrungen belegen.
- Weihs stieß bei seinen Recherchen ab 2006, ab 2020 quasi hauptberuflich, auf massiven Widerstand und eine gezielte Verdrängung der NS-Vergangenheit in der Region.
- Viele relevante Akten galten offiziell als "durch Kriegseinwirkung in Verlust geraten", doch Weihs förderte weiterhin erschreckende Details zutage und setzte die Umbenennung einer nach einem NS-Verbrecher benannten Straße durch.
- Mit seinem umfangreichen Material sieht Weihs die Basis für weitere historische Forschung gelegt und fordert mehr sichtbare Gedenkorte zur jüdischen Geschichte am Semmering.