APA/APA/Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Neue Staatsopern-"Salome" als Missbrauchsfallstudie

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Manchmal lohnt es sich zu warten. Erscheint die neue "Salome" an der Wiener Staatsoper zunächst wie eine beinahe erschreckend altbackene Interpretation des überspannten Stücks von Richard Strauss, so steigert sich der Abend letztlich zu einer genauen psychologischen Deutung, die manche Zusammenhänge prononciert zeigen, die sonst nur in Nuancen aufscheinen. Dem Regisseur Cyril Teste gelingt bei seiner ersten Premiere außerhalb Frankreichs eine fein gesponnene Psychoanalyse.

So fokussiert der 47-jährige Teste bei seiner "Salome", die an der Staatsoper auf Boleslaw Barlogs ästhetisch-statischer Arbeit aus 1972 folgt, auf die junge Salome als traumatisierte Frau, die aus Missbrauchserfahrungen heraus ihre psychopathischen Züge entwickelt hat. Dies ist eine dem Stück vollends immanente Deutung, die dennoch oft genug von der Faszination der erotischen Kindsfrau, dem Exotismus der Nekrophilie überlagert wird.

Der legendäre Tanz der sieben Schleier als minutenlange orchestrale Partie ist dabei stets der Lackmustest für "Salome"-Interpretationen. Wie oft muss man hier mit Sopranistinnen fortgeschrittenen Alters und Körperfülle mitleiden, die von Regisseuren zu einer für alle Seiten unangenehme Bewegungschoreografie genötigt werden.

Das vermeintlich belanglose Gehampel um den zentralen Banketttisch der Inszenierung durch die neue Wiener Salome Malin Byström täuscht zunächst an, in dieselbe Richtung zu gehen. Die Passage wandelt sich jedoch alsbald dank eines übernehmenden, jungen Alter Egos (eine großartige Nachwuchsballerina Anna Chesnova im Widerstreit zwischen jugendlicher Aufmüpfigkeit und beschädigtem Ich) zu einem bewegenden Dokument des Missbrauchs, einer parabelhaften Rückblende in die traumatisierte Psyche einer misshandelten Frau.

In der "Salome" geht es zentral um die Frage des Blicks, die Frage, wer gesehen wird, vom Gegenüber lediglich zum gesehenen Objekt degradiert wird, wer durch einen Blick erkannt wird. Auch diesen Interpretationsstrang akzentuiert Teste, in dem er den Darstellenden eine Livevideokamera auf den Leib hetzt, die immer wieder Details offenbart, die Protagonisten aber auch voyeuristisch bedrängt.

Dabei gestaltet sich der gesamte Abend als Entwicklungsstück, darin gleichsam als Parallele zur Strauss'schen Partitur, die sich von den noch klar Wagner verhafteten Anfängen in der Binnenentwicklung zur größeren Dissonanz, zum Spiel mit den Tonarten vorarbeitet. Ob dies von den Machern intendiert ist oder einem erst sukzessive Aufeinander-Einschwingen geschuldet ist, lässt sich nur schwer sagen. Stringent wäre die intendierte Wahl in jedem Falle. So tut sich Byström anfangs schwer mit den subtileren Passagen ihrer Partie, in denen sie beinahe zum Sprechgesang greift und nur schwerlich zwischen der vorhanden Stärke und ruhigeren Sequenzen nuanciert. Dies ändert sich mit der zunehmenden Derangierung der Figur, die bei Byström kein verführerisches Wesen, sondern erkaltet in sich ruhende Psychopathin ist.

Auch im Graben wandelt sich die Betonung der Partitur durch Musikdirektor Philippe Jordan schrittweise. Nimmt Jordan das Orchester zu Beginn noch deutlich zurück, streicht die Nähe zu Wagner heraus und ermöglicht den Sängern somit große Textdeutlichkeit, kommt der breite Pinsel, die rohe Urgewalt der Strauss-Partitur erst später zum Tragen, dann aber umso eindrucksvoller. Von Beginn weg als Furie Herodias präsent ist Michael Schuster, ihr zur Seite Gerhard Siegel als traniger Herodes und ein überraschend neutral auftretender Wolfgang Koch als uncharismatischer Jochanaan, der hier umso eindrücklicher als Projektionsfläche für Salome dient.

Diese "Salome" stellt somit in Summe eine höchst zeitgenössische Interpretation dar. Es ist der Blick auf Figuren mit psychologischer Grundierung, nicht aus einer Fin-de-Siècle-Überspanntheit heraus. Es ist ein Kondensat ohne nostalgisch relativierende Überzuckerung, das einzig an einem Umstand krankt: Der Bühnenbildnerin Valérie Grall gelingt nicht ein markantes, überzeugendes Bild. Auch ohne die Arbeit an der schon heute legendären Castellucci-Arbeit für die Salzburger Festspiele aus 2018 zu messen, fehlt der Inszenierung eben just das, was diese auszeichnete: Eine adäquate visuelle Wiedergabe des Geschehens, optische Wegmarken abseits anspruchsloser Stadttheatereinheitsware. Da reißt auch der im Vorfeld breitflächig beworbene Moschusduft, den der Parfümeur Francis Kurkdjian für die Aufführung entworfen hat, nichts heraus, der vom ähnlich gelagerten olfaktorischen Kleid manches Staatsopernbesuchers schlicht überlagert wird.

(S E R V I C E - "Salome" von Richard Strauss an der Staatsoper, Opernring 2, 1010. Musikalische Leitung: Philippe Jordan, Inszenierung: Cyril Teste, Bühne: Valérie Grall, Kostüme: Marie La Rocca. Mit Herodes - Gerhard Siegel, Herodias - Michaela Schuster, Salome - Malin Byström, Jochanaan - Wolfgang Koch, Narraboth - Daniel Jenz, Page - Patricia Nolz, Erster Jude - Thomas Ebenstein, Zweiter Jude - Andrea Giovannini, Dritter Jude - Carlos Osuna, Fünfter Jude - Evgeny Solodovnikov, Erster Nazarener - Clemens Unterreiner, Zweiter Nazarener - Attila Mokus, Erster Soldat - Ilja Kazakov, Zweiter Soldat - Stephano Park, Kappadozier - Ferdinand Pfeiffer, Sklave - Daniel Lökös, Die kleine Salome - Jana Radda, Tanzende kleine Salome - Anna Chesnova. www.wiener-staatsoper.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Dem Regisseur Cyril Teste gelingt bei seiner ersten Premiere außerhalb Frankreichs eine fein gesponnene Psychoanalyse.

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