"Le passé" ermüdet bei den Salzburger Festspielen
Dabei hatte man den 1987 geborenen Regisseur und seine Theatergruppe "Si vous pouviez lécher mon cœur" ("Wenn Sie mein Herz lecken könnten") hierzulande bereits schätzen gelernt, als er vor zwei Jahren mit dem fünfstündigen Mammutwerk "Extinction" bei den Wiener Festwochen zu Gast war. Damals untersuchte er den Untergang der (Wiener) Moderne anhand einer radikalen Verschränkung von Arthur Schnitzler und Thomas Bernhard. Die Koproduktion mit der Berliner Volksbühne wusste dabei als wilder Ritt zwischen Noblesse und Nihilismus, Trieb und Tod zu begeistern. Auch Arbeiten wie seine Inszenierungen von Michel Houellebecqs "Elementarteilchen" oder Roberto Bolanos "2666" erhielten internationale Aufmerksamkeit und trugen ihm den Titel eines jungen Regie-Stars ein.
Doch mit der nunmehrigen Collage aus mehreren Texten des weitgehend unbekannten russischen Autors Leonid Andrejew (1871-1919) hat Gosselin nun eine allzu hermetische Versuchsanordnung geschaffen, die bereits nach wenigen Stunden ermüdet - und am Ende ratlos zurücklässt. Gespielt wird hauptsächlich hinter den Kulissen in bürgerlichen Wohnzimmern, die von Kameras eingefangenen Live-Bilder des Spiels werden auf eine (viel zu hoch) gehängte Leinwand projiziert, auf der auch die englischen und deutschen Übertitel platziert werden. Das sorgt im Parkett bald für Nackenstarre und man hätte sich gewünscht, auf dem (allerdings gesperrten) Balkon zu sitzen, um ein unliebsames Erwachen am nächsten Morgen zu vermeiden.
Im Zentrum steht das Stück "Jekaterina Iwanowa" rund um eine fälschlicherweise des Ehebruchs bezichtigte Frau, die von ihrem eifersüchtigen Mann gleich zu Beginn angeschossen wird und in eine seelische wie gesellschaftliche Abwärtsspirale strudelt, indem sie nun genau das tut, was ihr vorgeworfen wird. Die Intensität, in der Victoria Quesnel als Jekaterina sich langsam, aber stetig auf den Abgrund zu bewegt, gleicht einer körperlichen Schmerzerfahrung. Kombiniert mit Motiven aus den Erzählungen "Im Nebel", "Der Abgrund" und "Die Auferstehung der Toten" zeichnet Gosselin das Bild einer patriarchalen Weltordnung, in der die Gewalt von tief drinnen an die Oberfläche kommt.
Publikum nach der Pause stark ausgedünnt
Doch der zur Schau gestellte Naturalismus, die perfekt austarierte Kameraführung und die immer wieder gleiche Gewalteskalation führen bald zu geistiger Ermüdung. Bald wünscht man sich das gebrochene Chaos eines Frank Castorf herbei. Da hilft es auch nicht, dass eine der Szenen als schräges Puppentheater eingespielt wird, die sich nur mit viel Mühe mit dem Rest der Handlung verbinden lässt. Nach der Pause nach zweieinhalb Stunden haben jedenfalls nur mehr etwa die Hälfte der Premierengäste ihren Weg zurück auf ihre Plätze gefunden.
Sie wurden am Ende des Abends noch mit einer körperlichen Grenzerfahrung belohnt: Minutenlanges, kaum erträgliches, lautes Bassdröhnen brachte die Luft im Saal derart zum Vibrieren, dass man sich nicht nur um die Ohren, sondern auch den Herzrhythmus ernsthafte Sorgen machen musste. Am Ende des langen Abends wurde zumindest eines deutlich: Es gibt wohl einen Grund, warum sich Leonid Andrejews "Jekaterina Iwanowa" auf den Bühnen in den vergangenen 100 Jahren nicht durchgesetzt hat.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - Salzburger Festspiele: "Le passé" von Leonid Andrejew in einer Adaption von Julien Gosselin, Produktion von Si vous pouviez lécher mon coeur, Tournee-Produktion des Odéon-Théâtre de l'Europe. Mit Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Carine Goron, Victoria Quesnel, Achille Reggiani und Maxence Vandevelde. Weitere Termine im Salzburger Landestheater: 30. Juli, 1. und 2. August, 18.30 Uhr www.salzburgerfestspiele.at)
Zusammenfassung
- Die viereinhalbstündige Theatercollage "Le passé" von Julien Gosselin, basierend auf Texten von Leonid Andrejew, feierte am Montagabend im Salzburger Landestheater Premiere und ließ viele Zuschauer bereits in der Pause das Stück verlassen.
- Im Zentrum der Inszenierung steht das Drama um Jekaterina Iwanowa, das durch Naturalismus, Kameraprojektionen und eine hoch gehängte Leinwand das Publikum sowohl inhaltlich als auch körperlich forderte.
- Nach zweieinhalb Stunden kehrte nur etwa die Hälfte der Premierengäste zurück, und das minutenlange, extrem laute Bassdröhnen am Ende sorgte für eine körperliche Grenzerfahrung.