Für Booker-Triumphator Szalay war Wien die naheliegende Wahl
APA: Herzliche Gratulation, Herr Szalay! Wie war es bei der Verleihungsgala? Da Sie bereits einmal nominiert waren, hatten Sie ja schon Erfahrung ...
David Szalay: Dieses Mal war ich irgendwie unheimlich ruhig. 2016 war ich sehr angespannt und der Abend war schrecklich. Ich war entschlossen, nicht noch einmal dieselbe Erfahrung zu machen. Um das zu erreichen, musste ich mich selbst davon überzeugen, dass ich nicht gewinnen würde und dass ich den Abend einfach so genießen sollte, wie er war. Ich glaube, das ist mir fast zu gut gelungen. Die Leute waren überrascht, dass ich tatsächlich etwas aß, und als "Flesh" zum Sieger gekürt wurde, war das eine echte Überraschung, ein seltsamer, traumähnlicher Moment.
APA: Am gleichen Abend wurde der Österreichische Buchpreis verliehen. Der Gewinner Dimitré Dinev meinte: "Es gibt keinen Preis der Welt, der ein Buch besser machen kann. Aber er kann mein Leben leichter machen." Wie sieht das bei Ihnen aus? Mit welchen Auswirkungen des Booker Prize rechnen Sie - bzw. welche spüren Sie bereits?
Szalay: Um ehrlich zu sein, bin ich immer noch dabei, das alles zu verarbeiten! Allerdings sind die Verkaufszahlen des Buches bereits in die Höhe geschnellt, und ich habe schon einige Angebote für neue Übersetzungen erhalten. In gewisser Weise dürfte sich mein Leben also finanziell gesehen etwas einfacher gestalten. In anderer Hinsicht wird es jedoch etwas komplizierter werden - mit dem gestiegenen Interesse an dem Buch werde ich mehr Zeit mit Anfragen von Medien verbringen müssen, und mit der größeren Aufmerksamkeit geht auch eine genauere Beobachtung einher. Mir wurde geraten, vorsichtiger mit meinen Äußerungen zu sein. Eine beiläufige Bemerkung in einem Interview darüber, dass das Preisgeld seit mehr als zwanzig Jahren nicht erhöht wurde, wurde zu einer Schlagzeile, die den Eindruck erweckte, ich würde mich darüber beschweren ...
APA: "Flesh" wurde gerade in der deutschen Übersetzung herausgebracht ("Was nicht gesagt werden kann", Anm.) und erscheint in mehreren Sprachen gleichzeitig. Laut Verlag sind Sie dafür viel unterwegs. Notwendiges Übel zum Promoten des Buches oder auch ein schöner Teil eines Autorenlebens?
Szalay: Ich genieße es tatsächlich. Schreiben ist natürlich eine einsame Beschäftigung, daher ist es schön, alle paar Jahre diese Ausbrüche sozialer Aktivität zu haben - zu reisen und mit Menschen zu sprechen. Es kann zu viel werden, aber in Maßen ist es meiner Meinung nach ein wichtiges Gegengewicht zum eher isolierten Leben eines Romanautors. Es ist schön, Orte aus einem bestimmten Grund zu besuchen, insbesondere etwas abgelegene Orte, die man sonst vielleicht nie aufsuchen würde.
Wien? - "Die Entscheidung fiel uns leicht"
APA: Sie wurden in Montreal geboren, haben in London gelebt - wie kam es zu Ihrem heutigen Wohnsitz Wien?
Szalay: Die wichtige Verbindung ist Ungarn. Vor etwa 15 Jahren bin ich von London nach Ungarn gezogen und habe über ein Jahrzehnt lang in Ungarn gelebt - zuerst in Pécs und dann in Budapest. Natürlich bin ich aus familiären Gründen nach Ungarn gezogen und nicht an einen anderen Ort. Mein Vater ist Ungar, und ich habe dort noch viele familiäre Verbindungen. Der Umzug nach Wien kam zustande, weil meine Frau Deutsche ist und in einem deutschsprachigen Land leben wollte, während ich auch weiterhin viel Zeit in Ungarn verbringen muss - daher war Wien für uns die naheliegende Wahl. Und natürlich ist es eine wunderbare, schöne Stadt, die in den weltweiten Rankings zur Lebensqualität meist ganz oben steht. Die Entscheidung fiel uns also leicht.
APA: Ich wurde 1963 in Wien geboren. In den 1970ern war in den Gassen und den Straßenbahnen der Stadt nur Wienerisch, Jugoslawisch und Türkisch zu hören. Heute präsentiert sich Wien rein sprachlich als Weltstadt - mit viel Englisch und zahlreichen Ostsprachen. Wie nehmen Sie Wien wahr?
Szalay: Auf mich wirkt es sehr international. Wie Sie sagen, hört man auf den Straßen oft Türkisch und Arabisch, aber für mich ist das Bemerkenswerte, wie sehr es sich (immer noch) wie die Metropole Mitteleuropas anfühlt - Ungarisch, Slowakisch, Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch, Serbisch, Albanisch. Man hört all diese Sprachen in der Stadt und hat das Gefühl, dass Menschen aus der ganzen Region hierherkommen, um neue Horizonte zu entdecken und wirtschaftliche Chancen zu nutzen. Eine persönliche Anmerkung: Mein eigener Vater verbrachte, nachdem er 1968 Ungarn verlassen hatte, ein oder zwei Jahre hier, bevor er nach Kanada auswanderte. Die Stadt war also der Ort seiner ersten wirklichen Begegnung mit dem "Westen". Er lebte in einer Jugendherberge und arbeitete als Kellner.
"Ich bin mehr oder weniger ein Außenseiter"
APA: Haben Sie Kontakt zur österreichischen Literaturszene, gibt es so etwas wie eine englischsprachige Writers Community in Wien - oder halten Sie sich von alledem fern?
Szalay: Ich habe keinen Kontakt zu einer solchen Szene, falls es sie überhaupt gibt. Selbst in Ungarn war ich nie wirklich Teil des dortigen literarischen Lebens. Das ist für mich in Ordnung. Ich denke, in gewisser Weise ist es für mich als Schriftsteller von Vorteil, nicht Teil einer Literaturszene zu sein. Natürlich spielt sich mein Berufsleben nach wie vor hauptsächlich in London und in geringerem Maße auch in New York ab, aber auch dort bin ich mehr oder weniger ein Außenseiter.
APA: Ungarn und Österreich - das ist eine lange gemeinsame Geschichte von einstiger Nähe und späterer, Jahrzehnte währender Trennung durch den Eisernen Vorhang. Wie nahe ist Ihnen Ungarn?
Szalay: Wie ich bereits erwähnt habe, habe ich einige Jahre in Ungarn gelebt und fühle mich diesem Land sehr verbunden. Weil ich die Sprache nicht sehr gut spreche, werde ich aber nie ein richtiger Ungar sein und dort immer ein bisschen ein Ausländer bleiben. Aber ich besuche Ungarn seit meiner Kindheit in den 1970er-Jahren, habe alle Veränderungen, die dort in den letzten 40 Jahren stattgefunden haben, aus erster Hand miterlebt und habe dort auch enge Familienangehörige. Nach England ist es das Land, das ich am besten und am intimsten kenne.
"Eine Art existenzieller Roman in der Tradition von Camus"
APA: Sie lassen Ihren Roman "Flesh" in Ungarn beginnen und danach in London spielen. Es ist die Geschichte von Kontrasten, aber auch eines Aufstiegs. Was war die Kernidee des Romans?
Szalay: Ich wollte einen Roman schreiben, der sowohl einen englischen als auch einen ungarischen Aspekt hat, und eine naheliegende Möglichkeit dafür war, einen Protagonisten zu wählen, der aus Ungarn nach London ausgewandert ist. Ich kenne Menschen, die das getan haben, und ich dachte, es wäre interessant, darüber zu schreiben, auch weil es das Thema des heutigen Europas eröffnen würde, wo es natürlich eine enorme wirtschaftliche Migration von Ost nach West gegeben hat; das ist ein sehr wichtiger Aspekt des heutigen Lebens in Europa. Außerdem wollte ich über das Leben als in erster Linie körperliche Erfahrung schreiben.
APA: Die Booker-Jury meint über Ihre Hauptfigur: "István steht in vielerlei Hinsicht für das Stereotyp des Maskulinen - körperbetont, impulsiv, von den eigenen Gefühlen entfremdet." Zutreffend?
Szalay: Soweit es geht, ist das wahrscheinlich zutreffend. Aber ich möchte nicht, dass der Roman zu sehr unter dem Gesichtspunkt der Männlichkeit betrachtet wird. Für mich geht es um viel mehr als das. Er wurde als eine Art existenzieller Roman in der Tradition von Camus und anderen beschrieben, und ich sehe ihn auch in diesem Zusammenhang. Er ist auch eine Art klassischer Bildungsroman in Verkleidung. Diese Aspekte waren mir beim Schreiben wichtiger als eine Aussage über die zeitgenössische Männlichkeit.
"Ich bin hartnäckig optimistisch, was die Zukunft des Romans angeht"
APA: Die Buchbranche ist in der Krise. Einziger Wachstumsmarkt ist Young Adult, der auf klischeebeladene Unterhaltung setzt. Wie ist es in dieser Situation, anspruchsvolle Literatur zu schreiben?
Szalay: Ich bin hartnäckig optimistisch, was die Zukunft des Romans angeht. In gewisser Weise ist es ermutigend, dass Jugendliteratur ein Wachstumsbereich ist - diese jungen Erwachsenen werden zwar irgendwann nicht mehr jung sein, aber sie werden wahrscheinlich weiterhin lesen. Im September war ich zu Gast in Dua Lipas Buchclub - und allein die Tatsache, dass sie einen Buchclub hat, dass Bücher etwas sind, für das sie sich begeistert, gibt Anlass zu Optimismus; schließlich ist sie selbst noch jung, erst dreißig Jahre alt. In der heutigen Welt gibt es einen enormen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Menschen, aber ich denke, dass Romane eigentlich recht gut aufgestellt sind, um ihre Position in diesem Bereich zu behaupten. Sie bieten etwas Einzigartiges, sie leisten etwas, was nichts anderes leisten kann, und ich glaube, dass die Menschen immer danach suchen werden.
(Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - David Szalay: "Was nicht gesagt werden kann". Aus dem Englischen von Henning Ahrens, Claassen-Verlag, 450 Seiten, 25,70 Euro, ISBN: 978-3-546-10150-9; Buchpremiere in Wien am 15.12., 19 Uhr, in der Hauptbücherei, Wien 7, Urban Loritz Platz 2a, Moderation: Tino Schlench)
Zusammenfassung
- Der britische Autor David Szalay, geboren 1974 in Montreal und heute in Wien lebend, gewann für seinen Roman "Flesh" den renommierten Booker Prize.
- Szalay berichtet, dass nach der Auszeichnung die Buchverkäufe stark gestiegen sind und zahlreiche neue Übersetzungsangebote eingegangen sind.
- Wien wurde als Wohnort gewählt, weil Szalays Frau Deutsche ist und er weiterhin enge familiäre Bindungen nach Ungarn pflegt.
- Der Autor sieht sich selbst als Außenseiter in Literaturszenen und hat keinen Kontakt zur österreichischen Literaturszene.
- Die Buchpremiere der deutschen Übersetzung "Was nicht gesagt werden kann" findet am 15. Dezember in der Hauptbücherei Wien statt.
