APA/Marcella Ruiz Cruz / Burgtheater

"Extrem teures Gift": Litwinenko-Ermordung als Theaterstück

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Eigentlich ist es viele Jahre her, genau 16 nämlich, und doch mutet es erschreckend aktuell an: Der Giftmord an dem russischen Dissidenten und ehemaligen Geheimdienstoffizier Alexander Litwinenko 2006 in London war einer in einer Reihe von Morden an Kreml-Kritikern, die offenbar auf obersten Befehl ausgeführt wurden. Mit dem Wissen der Gegenwart die damaligen Vorgänge nun auf der Bühne zu sehen, ist bedrückend. Premiere war am Samstag im Kasino am Wiener Schwarzenbergplatz.

Das verwendete Polonium 210 ist nicht nur "Extrem teures Gift", wie der Titel des Stückes lautet, in dem der Marktwert der verwendeten 100-fach tödlichen Dosis mit 29 Millionen Euro beziffert wird, es kann auch nur aus einer einzigen Atomanlage in Russland stammen. Ein Zugriff darauf sei ohne staatliche Billigung unmöglich, heißt es in einem britischen Untersuchungsbericht, der Jahre nach dem Mord verfasst wurde und ohne permanentes Insistieren von Litwinenkos Witwe wohl nie zustande gekommen wäre.

Marina Litwinenko wird sich am Ende des fast zweistündigen pausenlosen Abends gemeinsam mit dem Ensemble verbeugen. Zuvor wird sie von Sophie von Kessel dargestellt - als liebende, energische, doch zunehmend verzweifelte Frau, die das langsame Sterben ihres radioaktiv vergifteten Mannes mitansehen muss und erst durch die Gespräche und Verhöre kurz vor seinem Tod mitbekommt, welch hochrangige Feinde er sich gemacht hatte.

Sie ist neben dem von Daniel Jesch mit hoher Präsenz und Intensität dargestellten Alexander Litwinenko die Zentralfigur dieses Doku-Dramas der britischen Dramatikerin und Drehbuchautorin Lucy Prebble ("Enron"), das sich auf einen 2017 veröffentlichten Report des "Guardian"-Journalisten Luke Harding stützt. Nach der Uraufführung 2019 am Old Vic in London verantwortete das Burgtheater nun die deutschsprachige Erstaufführung.

Das Stück blendet - historisch nicht immer akkurat - immer wieder zurück ins Russland der 1990er-Jahre, als die staatliche Ordnung durch ein Chaos ersetzt wurde, in dem kriminelle und staatliche Strukturen Hand in Hand arbeiteten, einige Wenige reich und mächtig wurden (Johannes Terne lässt sich als Boris Beresowski nicht recht in die Karten schauen) und ein kleiner früherer KGB-Offizier immer mächtiger wurde. Dietmar König spielt Wladimir Putin mit eisiger Kälte. Ein Täter aus Überzeugung, nicht aus Leidenschaft. Die Unwilligkeit des Westens, einen offensichtlich vom Kreml beauftragten politischen Mord als solchen zu benennen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen, wird nur am Rande gestreift.

Ursprünglich hätte Rikki Henry das Stück inszenieren sollen. Es habe sich aber herausgestellt, dass dessen Konzept mit vielen Umbauten und Kostümwechseln bei den reduzierten Möglichkeiten des Kasinos kaum durchführbar war, schilderte Burgtheater-Direktor Martin Kušej im Ö1-Interview. Also habe er selbst übernommen und dabei quasi bei Null neu angefangen. In kurzer, intensiver Arbeit (die vermutlich beim Warten auf die anstehende politische Entscheidung über seine Vertragsverlängerung eine hoch willkommene Ablenkung war) ist ihm dabei etwas viel Überzeugenderes gelungen als jüngst bei seiner Kehlmann-Uraufführung im Burgtheater.

Kušej stellt sechs weiße Tische zu einer großen zentralen Fläche zusammen, die als Ess- und Verhörtisch ebenso verwendet werden kann wie als Krankenhausbett. Er konzentriert sich auf die zentralen Personen und ihre Geschichte, baut sparsam dokumentarische Fotos und Videos ein, erzählt den Politthriller schnörkellos nach. Durch die Reduktion der Theatermittel gibt er der wahren Geschichte Raum, den Spielern lässt er dabei Freiheit für Gestaltung und Überzeichnung. Tim Werths und Johannes Zirner könnten als die beiden mutmaßlichen Mörder in ihrem Schurken-Slapstick einem Stück von William Shakespeare ebenso entsprungen sein wie einem Film von Quentin Tarantino.

Für Marina Litwinenko gab es am Ende Standing Ovations, für das Ensemble und für Martin Kušej wohlwollenden Applaus. Sollte die künftige Burgtheater-Direktion nicht schon längst entschieden sein, hat er mit diesem Abend noch einmal gute Argumente für eine Verlängerung vorgelegt und sowohl Leadership als auch Gespür für die gesellschaftliche Relevanz von Theater bewiesen. Solcherart könnte "Extrem teures Gift" eine gute Investition gewesen sein.

(S E R V I C E - "Extrem teures Gift" von Lucy Prebble nach Luke Harding, aus dem Englischen von Michael Raab, Szenische Einrichtung, Fassung, Bühne: Martin Kušej, Mit: Sophie von Kessel, Daniel Jesch, Dietmar König, Tim Werths, Johannes Zirner, Maximilian Pulst, Wolfram Rupperti, Johannes Terne, Laura Dittmann. Deutschsprachige Erstaufführung im Kasino. Nächste Vorstellungen: 17.12., 15., 20.1.2023, www.burgtheater.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Premiere war am Samstag im Kasino am Wiener Schwarzenbergplatz.
  • Für Marina Litwinenko gab es am Ende Standing Ovations, für das Ensemble und für Martin Kušej wohlwollenden Applaus.

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