APA/Marcella Ruiz Cruz / Burgtheater

"Die Schwerkraft der Verhältnisse": Fritz im Akademietheater

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Die Bücher von Marianne Fritz (1948-2007) gelten als einer der großen, erratischen Werkblöcke der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Nur wenige dürften die zwölf Bände ihres über 3.000 Seiten umfassenden Hauptwerks "Dessen Sprache du nicht verstehst" gelesen haben. Umso verdienstvoller ist nun die Ermöglichung einer Begegnung mit ihrem Schaffen, ohne gleich erschlagen zu werden: "Die Schwerkraft der Verhältnisse" wurde gestern im Akademietheater uraufgeführt.

Der 1980 geborene Deutsche Bastian Kraft, der am Burgtheater bereits "Dorian Gray" (2010), "Ludwig II." (2016) und "Mephisto" (2018) dramatisiert hat, nahm sich des 1978 erschienenen Debütromans von Marianne Fritz an und hat dafür ein beeindruckendes Konzept von großer Klarheit entwickelt. Virtuose Schattenspiele, in denen die Schatten live auf der Bühne agierender Darsteller mit vorbereiteten Video-Aufnahmen in Überblendung interagieren, werden dabei abgelöst von waghalsigen Kletterpartien durch eine regalartige Kleinraumwohnung, mit der die Enge der Verhältnisse deutlich vor Augen geführt wird. Peter Baur (Bühne) und Jonas Link (Video) haben ganze Arbeit geleistet.

Die zwischen 1945 und 1960 spielende Geschichte läuft auf diese Weise nie Gefahr, zur Kolportage zu verkommen, sondern bleibt immer auf Distanz. Die junge Berta (Katharina Lorenz) wird vom Musiklehrer Rudolf (Nils Strunk, der auch die Live-Musik besorgt) geschwängert, ehe dieser wieder an die Front muss. Statt Rudolf kommt sein Freund Wilhelm (Markus Meyer) aus dem Krieg zurück und überbringt der jungen Frau die Todesnachricht, die diese nur mit einem "So, so" quittiert. Später haben der Chauffeur Wilhelm und Berta eine gemeinsame Tochter und leben mit Bertas und Rudolfs Sohn als vierköpfige Familie. Während einer mehrwöchigen Dienstreise Wilhelms bringt Berta ihre Kinder um und versucht vergeblich, sich danach auch selbst das Leben zu nehmen. Berta landet in der Psychiatrie, Wilhelm in den Armen von Bertas Freundin Wilhelmine (Stefanie Dvorak).

Das Leben ist ein böser Traum, die Schwerkraft der Verhältnisse zwingt alle zu Boden, und auf die Frage nach dem Warum gibt es keine nachvollziehbare Antwort. Berta Schrei sieht sich mit ihrer Schöpfung gescheitert, mit den beiden Kindern, die "misslungen" scheinen, weder ihre Intelligenz geerbt haben noch ihre Liebe erwidern. Der Entwurf eines eigenen Lebens kennt am Ende ebenfalls keinerlei Bewegungsspielspielraum mehr. Auch die nüchterne Pragmatikerin Wilhelmine wird als ihre Nachfolgerin an der Seite des stillen "Lächlers" Wilhelm nicht glücklich werden.

"Die Schwerkraft der Verhältnisse" bietet eine Ahnung von den Expeditionen durch das weite Land der Seele, zu denen Marianne Fritz von ihrem Schreibtisch aus aufgebrochen ist. Davon, mit welcher Waghalsigkeit und Ausdauer diese Erkundungen später betrieben wurden, gibt das Programmheft eine Ahnung. Es wäre schön, wenn "Die Schwerkraft der Verhältnisse" der Anfang, und nicht gleich auch wieder das Ende von Marianne Fritz' Wiederentdeckung wäre. Der lange, begeisterte Schlussapplaus sollte ein Ansporn dazu sein.

(S E R V I C E - "Die Schwerkraft der Verhältnisse" nach dem Roman von Marianne Fritz, Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Video: Jonas Link, Musik: Nils Strunk. Mit Katharina Lorenz - Berta, Markus Meyer - Wilhelm, Stefanie Dvorak - Wilhelmine, Nils Strunk - Rudolf, Barbara Petritsch - Das weise Mütterchen. Uraufführung im Akademietheater. Nächste Vorstellungen: 21., 27.12., 4., 17., 26., 30.1.2022, www.burgtheater.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Die Bücher von Marianne Fritz gelten als einer der großen, erratischen Werkblöcke der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
  • Umso verdienstvoller ist nun die Ermöglichung einer Begegnung mit ihrem Schaffen, ohne gleich erschlagen zu werden: "Die Schwerkraft der Verhältnisse" wurde gestern im Akademietheater uraufgeführt.
  • Berta landet in der Psychiatrie, Wilhelm in den Armen von Bertas Freundin Wilhelmine.

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