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"Die letzten Tage der Menschheit" feierten Wien-Premiere

Heute, 04:01 · Lesedauer 4 min

"Was empfinden Sie jetzt?" Die in Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" von der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek an der Front wiederholt gestellte Frage ist seit Freitag auch im Burgtheater zu hören. Dušan David Pařízeks Inszenierung, Ende Juli auf der Perner-Insel in Hallein herausgekommen, feierte ihre Wien-Premiere. Die Empfindungsfrage war während der drei Stunden differenziert zu beantworten. Der Schlussapplaus fiel mehr freundlich als euphorisch aus.

Pařízeks Ansatz ist radikal und irritiert. Ein großer Würfel, dessen Seitenwände krachend umgeklappt werden können, bildet einen riesigen Fremdkörper auf der Bühne, der gelegentlich mit Projektionen von historischen Fotos oder Zeitungstitelblättern bespielt wird, dessen Funktion und Notwendigkeit sich jedoch kaum erschließt. Nur einmal wird kurz auf ihn angespielt, als ein Erinnerungsobjekt, das in Gedenken an die lieben Toten Orden und Fotos enthalten soll, angepriesen wird. Noch mutiger ist sein Zugriff auf Text und Figuren.

Bisherige Umsetzungen des zwischen 1915 und 1922 entstandenen Mammutwerks mit seinen 220 Szenen, 1.114 Rollen und 137 Orten konzentrierten sich als Lesedrama auf die Sprache, als Polydrama auf die Vielschichtigkeit oder als Geschichtsdrama auf die historische Tragödie. Pařízek streicht stark und belässt nur sieben Figuren. Statt der Sirk-Ecke dominiert anfangs die deutsche Gesangschaft das Geschehen. Dort hängt Michael Maertens als deutscher Diplomat Sigmund Schwarz-Gelber am Telefon und wird von seiner Gattin, der Schauspielerin Elfriede Ritter (Dörte Lyssewski mit rückhaltlosem Einsatz), zu mehr karrierefördernder Initiative gedrängt. Der Ehekrieg zwischen den beiden hat vor der Pause deutlich mehr Intensität als das Frontgeschehen und die Rivalität zwischen den Bündnispartnern Österreich und Deutschland mehr Brisanz als alles andere. Eine seltsame Schwerpunktsetzung, denkt man sich.

Als gelungener empfindet man die musikalische und die mediale Umsetzung. Peter Fasching ist nicht nur für diverse ur-österreichische Figuren, vom hetzerischen Opportunisten bis zum gewissenlosen Offizier, sondern auch für die Musik zuständig. Die von ihm an unterschiedlichen Instrumenten hergestellte Klangkulisse samt Begleitung zum einen oder anderen Sprechgesang ist ebenso stimmig wie die Entscheidung, die Schalek mit einer Videokamera auszustatten, in die bei den Live-Berichten aus den Schützengräben ohne Unterlass gesprochen wird.

Branko Samarovski als Ruhepol

Weniger schlüssig wirkt die völlig überdrehte Interpretation, die Marie-Luise Stockinger für ihre Schalek gewählt hat. Ihr ausgestelltes Wienerisch kontrastiert zudem mit dem Schweizerdeutsch des "Nörglers" von Elisa Plüss (dem der "Optimist" als Widerpart abhanden gekommen ist) und dem starken rheinischen Dialekt, mit dem Felix Rech als deutscher Feldkurat stets aufs Neue die Gottgefälligkeit des "Krieschs" anpreist. Im Kontrast dazu ist Branko Samarovski Ruhepol und magisches Zentrum der Aufführung gleichermaßen. Als Gemischtwarenhändler Chramosta ist er zunächst unter den Patrioten und Fanatikern, später unter den Profiteuren, aber am Ende unter den Verlierern. Seine Welt bricht erst zusammen, als der Sohn von der Front nichts mehr von sich hören lässt.

Seine schon in Hallein irritierende Schluss-Viertelstunde, in der der Rote Vorhang immer wieder zu- und aufgezogen wird, hat Pařízek nicht verändert. Hier wird in kurzen, zusammenhanglosen Szenen das nachgeholt, was man zuvor vermisst hat: die Schilderung des Grauens und des Wegs dorthin. Politik und Medien gehören gemeinsam zur Verantwortung gezogen. Die Aktualität dieser Botschaft von Karl Kraus vermittelt sich auch, ohne dass extra daran erinnert werden muss, dass der Krieg in Europa heute wieder Realität ist und sowohl seine Beendigung als auch seine Ausweitung mögliche Optionen sind. "Was empfinden Sie jetzt?" Ratlosigkeit trifft es am besten. Aber besser ratlos als mutlos.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková und Magdaléna Vrábová, Musik und Videodesign: Peter Fasching. Mit Marie-Luise Stockinger (Alice Schalek), Michael Maertens (Sigmund Schwarz-Gelber), Dörte Lyssewski (Elfriede Ritter-Schwarz-Gelber), Felix Rech (Feldkurat), Elisa Plüss (Der Nörgler), Branko Samarovski (Patriot), Peter Fasching (Feldwebel). Koproduktion mit den Salzburger Festspielen im Burgtheater, Nächste Vorstellungen: 9., 15.9., 8., 11., 20.10., www.burgtheater.at ; Neue Buchausgabe im Verlag Jung und Jung,Mit einem Nachwort von Franz Schuh, 816 Seiten, 48 Euro, ISBN 978-3-99027-429-3)

Zusammenfassung
  • Der Schlussapplaus fiel freundlich, aber nicht euphorisch aus, die Inszenierung thematisierte eindrücklich das Grauen des Krieges und die Verantwortung von Politik und Medien, ohne expliziten Bezug auf aktuelle Konflikte zu nehmen.