Breites Favoritenfeld für Palmen-Vergabe in Cannes
Dreieinhalb Minuten lang gab es Standing Ovations für den erst zweiten Spielfilm der 1984 in Berlin geborenen und noch relativ unbekannten Regisseurin Mascha Schilinski ("Die Tochter"), die von der internationalen Kritik bereits am ersten Festivaltag als potenzielle Palme d'Or-Gewinnerin gehandelt wurde. Erzählt wird kein klassischer Plot, es reihen sich atmosphärische Bilder aneinander. "In die Sonne schauen" ist ein Generationenporträt über vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten auf einem Bauernhof in der Altmark leben. Das Drama, in dem auch die Wiener Schauspielerin Susanne Wuest mitspielt, lief gleich zu Beginn des Festivals, und das Magazin "Vulture" schrieb anschließend: "Den besten Film in Cannes haben wir dieses Jahr vielleicht schon gesehen."
Norwegisches Drama mit Kinostar Renate Reinsve
Dem norwegischen Regisseur Joachim Trier ist 2021 mit seinem Drama "Der schlimmste Mensch der Welt" ein überraschender Kinohit gelungen. Hauptdarstellerin Renate Reinsve gewann damals in Cannes die Auszeichnung als beste Schauspielerin. Die 37-Jährige hätte sie auch für Triers neues Drama verdient. "Sentimental Value" ist ebenfalls ein heißer Anwärter auf die Goldene Palme.
Nach der Premierenvorführung bekam das Filmteam einen beeindruckend langen Applaus von fast 20 Minuten. Viele waren von dem vielschichtigen Familiendrama begeistert, das mit emotionaler Tiefe und herausragenden schauspielerischen Leistungen im Gedächtnis bleibt. Trier erzählt die Geschichte von zwei Schwestern, die nach dem Tod ihrer Mutter mit ihrem entfremdeten Vater, einem einst gefeierten Regisseur, konfrontiert werden. Auch Hollywoodstar Elle Fanning spielt mit.
Heimlich gedreht: "Un Simple Accident" von Jafar Panahi
Zu den Beiträgen, die außerdem beeindruckten, zählt auch Jafar Panahis "Un Simple Accident". Der iranische Regisseur, der jahrelang Berufs- und Reiseverbot hatte, kehrte mit diesem heimlich gedrehten Werk erstmals seit über 15 Jahren persönlich auf ein großes Filmfestival zurück. Von Juli 2022 bis Februar 2023 war Panahi im Iran aus politischen Gründen inhaftiert. "Un Simple Accident" erzählt von dieser Zeit und stellt die Frage, ob Gewalt bei der Suche nach Gerechtigkeit gerechtfertigt ist. Panahi verbindet Elemente von schwarzer Komödie, politischem Thriller und Drama zu einem Film, der nachhallt.
"Two Prosecutors" von Sergei Loznitsa
"Two Prosecutors", der neue Film des aus Belarus stammenden Filmemachers Sergei Loznitsa, kann als düstere Parabel auf den aktuellen Krieg in der Ukraine gedeutet werden, auch wenn es sich um einen historischen Stoff handelt. Das Drama spielt 1937 in Russland, als Josef Stalin im großen Stil mutmaßliche Gegner der stalinistischen Herrschaft verfolgen und ermorden ließ. Loznitsa lebt in Berlin. Er erzählt von einem jungen Staatsanwalt, der versucht, Missstände innerhalb des sowjetischen Justizsystems aufzudecken. Das Drama überzeugte viele Menschen wegen seiner aktuellen politischen Relevanz und der erschütternden Darstellung eines totalitären Systems.
Stilistisch versierter Thriller: "The Secret Agent"
Viel gesprochen wurde auch über den Wettbewerbsbeitrag des Brasilianers Kleber Mendonça Filho. "The Secret Agent" spielt zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur im Jahr 1977 und erzählt von einem Universitätsprofessor (Wagner Moura), der untertaucht. Filho überzeugte das Publikum mit seinem vielschichtigen, stilistisch versierten Thriller, der nicht nur Anspielungen auf die Kinogeschichte bereithält, sondern auch einige unerwartet lustige und surrealistische Momente.
Vergangenes Jahr gewann Sean Bakers Tragikomödie "Anora" den Hauptpreis des Festivals. Dieses Jahr entscheidet eine Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Juliette Binoche über die Gewinner. Nicht immer ist die Wertung von Kritikerinnen und Kritikern ein Hinweis darauf, wer letztlich gewinnt. Der Palmen-Gewinner von 2022 etwa, "Triangle of Sadness", war kein Kritikerfavorit.
(S E R V I C E: www.festival-cannes.com)
Zusammenfassung
- Bei den 78. Filmfestspielen in Cannes gelten mehrere Filme als Favoriten für die Goldene Palme, darunter der deutsche Beitrag "In die Sonne schauen" von Mascha Schilinski, der dreieinhalb Minuten Standing Ovations erhielt.
- Das norwegische Familiendrama "Sentimental Value" von Joachim Trier mit Renate Reinsve begeisterte das Publikum mit fast 20 Minuten Applaus und wird als heißer Anwärter gehandelt.
- Der iranische Regisseur Jafar Panahi kehrte nach seiner Inhaftierung von Juli 2022 bis Februar 2023 mit dem politisch brisanten Film "Un Simple Accident" erstmals wieder persönlich nach Cannes zurück.