"Auslöschung": "Thomas Bernhards Text ist ein Labyrinth"
Im Roman blickt der in Rom lebende Erzähler Franz-Josef Murau anlässlich des Unfalltodes seiner Eltern und seines Bruders auf sein Leben in Oberösterreich und die Verstrickung seiner Familie im Nationalsozialismus zurück und versucht, seine Herkunft schreibend auszulöschen. Auf der Bühne stehen u.a. Norman Hacker, Lilith Häßle, Jörg Ratjen und Andrea Wenzl.
APA: Sie kommen gerade von der Probe. Wie läuft's?
Therese Willstedt: Ich bin sehr aufgeregt, weil die Arbeit sehr interessant und komplex ist. "Auslöschung" ist wirklich eine riesige Komposition, und nun liegt es an mir, all die Schichten und Ebenen zu erfassen und gleichzeitig meine eigene Interpretation hineinzubringen.
APA: Bernhard hat sich ja bewusst dafür entschieden, den Stoff in Romanform zu gießen. Warum wollen Sie dieses 600-Seiten-Werk nun auf die Bühne bringen?
Willstedt: Für mich ist "Auslöschung" eines der kraftvollsten Werke, die Bernhard geschaffen hat. Ich kann mich mit der Thematik sehr gut identifizieren, weil das Werk in vielerlei Hinsicht von Trauma in verschiedenen Variationen, auf unterschiedlichen Ebenen handelt. Mir gefällt, dass es einerseits um ein so klares persönliches Trauma geht, aber gleichzeitig zeigt, dass das Individuum ganz eng mit einem kollektiven Trauma verbunden ist.
APA: Wie sind Sie an die Aufgabe herangegangen, diesen Monolog in eine spielbare Form zu bringen?
Vervielfachung der Erzählfigur
Willstedt: Der Text ist ein Labyrinth, eine Spirale von Gedanken, hinter denen ein großer Aufruhr steckt. Anstatt auf der Bühne nur einen Protagonisten, eine Stimme zu haben, habe ich mich entschieden, Franz-Josef Muraus Geschichte mit acht Schauspielerinnen und Schauspielern zu erzählen. Das gibt dem Publikum die Möglichkeit, sich in einer der Personen selbst zu spiegeln.
APA: Auch in Ihrer Inszenierung von Virginia Woolfs "Orlando" haben Sie die Figur vervielfacht. Arbeiten Sie immer so?
Willstedt: Nicht immer, aber ich habe manchmal eine Tendenz dazu. Allerdings gibt es diesmal einen großen Unterschied, weil wir durch die Erzählhaltung mehr Distanz zum Material haben. Bei "Orlando" haben wir damit gearbeitet, dass alle im emotionalen Zustand von Orlando waren, hier ist es nicht so.
APA: In seiner Prosa sind Bernhards Sätze noch einmal entscheidend länger als in seinen Stücken, was ja auch den Ton durchgehend bestimmt. Wie gehen Sie damit um?
Willstedt: Wir behalten sie natürlich bei. Sonst wäre der Charme und die Intelligenz der "Auslöschung" verloren, wenn ich hier kürzen würde. Diese Sätze haben so viel mit dem Geisteszustand zu tun, in dem sich Murau befindet. Er ist ein sehr komplizierter, traumatisierter - und auch unsympathischer - Charakter. Er will das Böse sezieren, das er erfahren hat. Aber er urteilt über andere und merkt nicht, dass er Teil dieser Kultur ist und das Böse, das er kritisiert, auch in ihm selbst lebt.
"Kampf gegen unsere Unwissenheit"
APA: Das Buch erschien 1986. Was macht den Stoff heute noch relevant?
Willstedt: Bernhard arbeitet hier heraus, dass wir - auch wenn wir es nicht zugeben wollen - alle Teil einer gesellschaftlichen Struktur sind. Es geht ihm um den Kampf gegen unsere Unwissenheit, unsere Gleichgültigkeit. Ich denke, das macht "Auslöschung" hoch aktuell.
APA: Wenn man Bernhard in Wien inszeniert, stößt man beim Publikum auf eine hohe Erwartungshaltung, viele kennen die Stoffe. Hemmt Sie das?
Willstedt: Ich würde sogar sagen, dass mir das mehr Freiheit gibt. Es ist etwas Positives zu wissen, dass das Publikum hier Thomas Bernhard sehr gut kennt und weiß, wofür er steht. Es gibt mir die Freiheit, auf diesem Wissen aufzubauen, statt das Gefühl zu haben, erst alles erklären zu müssen.
APA: Wie gehen Sie mit Bernhards Humor um?
Willstedt: Sein grotesker Humor ist eine sehr gute Antwort auf all den Wahnsinn, der in der Welt vor sich geht. Immer, wenn ich darüber nachgedacht habe, wie ich diesen Roman inszenieren würde, kam mir als erstes in den Sinn: Dada! Fluxus! Das erlaubt mir, mit der Absurdität mitzugehen. Der Humor hilft auch, Gedanken und Reflexionen in verschiedene Richtungen zu lenken. Bernhards Labyrinth gleicht einem Mindfuck, aber wenn man herauszoomt, ergibt alles Sinn.
(Das Gespräch führte Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Auslöschung. Ein Zerfall" nach dem Roman von Thomas Bernhard, Premiere am 16. Oktober, 19.30 Uhr im Burgtheater. Regie: Therese Willstedt, Bühnenbild und Licht: Mårten K. Axelsson, Kostüme: Maja Mirkovic, Musik: Emil Assing Høyer, Jakob Munck. Mit Aarin Blanck, Norman Hacker, Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Seán McDonagh, Jörg Ratjen, Andrea Wenzl und Ines Marie Westernströer. Weitere Termine: 21. und 25. Oktober, 17. und 21. November, jeweils um 19.30 Uhr. www.burgtheater.at)
Zusammenfassung
- Die schwedische Regisseurin Therese Willstedt bringt Thomas Bernhards Roman 'Auslöschung. Ein Zerfall' mit acht Schauspielerinnen und Schauspielern als Franz-Josef Murau am 16. Oktober ins Burgtheater.
- Willstedt sieht im Werk eine Auseinandersetzung mit individuellem und kollektivem Trauma und betont die aktuelle gesellschaftliche Relevanz des Stoffs.
- Der originale Text mit seinen charakteristisch langen Sätzen bleibt in der Inszenierung erhalten, um Bernhards Stil und Ton zu bewahren.
- Die Inszenierung nutzt Bernhards grotesken Humor und die Absurdität, um die Vielschichtigkeit des Romans zu transportieren.
- Weitere Aufführungen finden am 21. und 25. Oktober sowie am 17. und 21. November jeweils um 19.30 Uhr statt.