Wie manche Gesellschaften Krisen trotzten
Das Forschungsteam um Peter Turchin und Daniel Hoyer vom CSH analysierte in ihrer Studie historische Fälle, in denen es Gesellschaften trotz hohen Drucks geschafft haben, durch adaptive Reformen Gewalt und Unruhen einzudämmen. Dabei handelte es sich um das frühe republikanische Rom, das England des 19. Jahrhunderts während der Chartistenbewegung, Russland in der Reformperiode Mitte des 19. Jahrhunderts und die "Progressive Era" in den USA Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
Für Turchin kann die Untersuchung historischer Fälle, in denen ein Zusammenbruch abgewendet werden konnte, "Erkenntnisse für die heutige Politik liefern". Denn angesichts der aktuellen, miteinander verflochtenen großen Probleme wie Klimawandel, gewaltsame Konflikte, wirtschaftliche Turbulenzen und politische Polarisierung werde es immer wichtiger zu verstehen, wie Gesellschaften Krisen bewältigen.
Die Forscherinnen und Forscher nutzten für ihre Arbeit die von Turchin mit aufgebaute "Global History Databank Seshat", eine Sammlung historischer und archäologischer Daten für Hunderte Gesellschaften weltweit. Sie untersuchten, wie die vier von ihnen ausgewählten Gesellschaften Reformen zur Wiederherstellung der Stabilität umsetzten, und identifizierten drei interne Faktoren, die ihnen dabei halfen.
Opferbereitschaft der Elite
An erster Stelle nennen sie die "Opferbereitschaft der Elite": Ein erheblicher Teil der Machthabenden sei angesichts erster Anzeichen von Unruhen bereit gewesen, tiefgreifende institutionelle Reformen durchzuführen, auch wenn dies mit dem Verlust eines Teils ihres persönlichen Vermögens oder ihrer Privilegien verbunden war.
Ein weiterer Schlüsselfaktor sei die Umsetzung weitreichender, miteinander verknüpfter institutioneller Reformen gewesen, die mehrere Ursachen sozialer Spannungen adressierten. Es habe sich dabei nicht um Notlösungen, sondern um bedeutende Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Strukturen gehandelt.
Schließlich sei die Fähigkeit des Staates entscheidend gewesen, Reformen durchzusetzen, zu institutionalisieren und aufrechtzuerhalten. So hätten der Ausbau bürokratischer Strukturen, die Umsetzung von Finanzreformen und die Verabschiedung entsprechender Gesetze zu dauerhafter Stabilität geführt. Dies sei insbesondere in England und den USA zu beobachten gewesen.
Verbesserung der Lebensbedingungen
Als Beispiele für solche Reformen nennt das Forschungsteam die Ausweitung der repräsentativen Regierungsform und die Umverteilung von Ressourcen im frühen republikanischen Rom und im England der Chartistenzeit, Arbeitsgesetze in England des 19. Jahrhunderts und in den USA des frühen 20. Jahrhunderts und die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland unter Zar Alexander II. All dies habe die Lebensbedingungen großer Bevölkerungsteile verbessert und zugleich den Wettbewerb unter den Eliten verringert, indem neuen Akteuren die Möglichkeit zu gesellschaftlichem Einfluss gegeben wurde.
Allerdings haben auch externe Faktoren zu diesen Entwicklungen beigetragen, betonen die Forscher. In allen vier untersuchten Fällen verschaffte die territoriale Expansion in den Jahrzehnten vor den Krisen den Staaten zusätzliche Ressourcen, die sie für die Umsetzung von Reformen und zur Bewältigung von Unruhen nutzen konnten. Zudem hätten Kriege und Eroberungen zum Verlust vieler Menschenleben bzw. Abwanderungen geführt, was den sozialen Druck auf den Arbeitsmärkten verringerte. Permanente äußere Bedrohungen erforderten außerdem von den Herrschenden, eine zusammenhaltende, leistungsfähige und engagierte Bevölkerung aufrechtzuerhalten, die bei Bedarf mobilisiert werden konnte.
Keine perfekten Lösungen
"Unsere Arbeit zeigt, dass gesellschaftliche Krisen zwar oft vorhersehbar sind, ihr Ausgang aber nicht feststeht", erklärte Hoyer in einer Aussendung. Abgewendete Krisen würden "ein wichtiges Gegen-Narrativ liefern, indem sie zeigen, dass Gesellschaften selbst angesichts enormer Massenarmut, einer Überproduktion von Eliten - also, wenn mehr potenzielle Führungskräfte entstehen, als es Macht- oder Einflusspositionen gibt - und finanzieller Belastungen des Staates, Wege zu Stabilität und erneuertem Wohlstand finden können".
Die Forscher betonen, dass abgewendete Krisen selten perfekte Lösungen hervorgebracht haben. So seien häufig Ungleichheiten bestehen geblieben. Dennoch würden die historischen Beispiele Ansätze aufzeigen, die für die heutige Politik lehrreich sein können.
(SERVICE - Internet: https://doi.org/10.21237/C7clio.38365)
Zusammenfassung
- Ein Forschungsteam des Complexity Science Hub Wien untersuchte vier historische Gesellschaften – das republikanische Rom, England und Russland im 19. Jahrhundert sowie die USA um 1900 –, die Krisen durch tiefgreifende Reformen abwenden konnten.
- Die Forscher identifizierten drei Schlüsselfaktoren für die erfolgreiche Krisenbewältigung: Opferbereitschaft der Elite, umfassende institutionelle Reformen und die Fähigkeit des Staates, diese umzusetzen und zu erhalten.
- Externe Faktoren wie territoriale Expansion und Kriege verschafften den untersuchten Gesellschaften zusätzliche Ressourcen und verringerten sozialen Druck, was die Umsetzung von Reformen erleichterte.
