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Kind in Hundebox: Jugendhilfe sah "keine Gefahr in Verzug"

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Am zweiten Prozesstag gerieten im Prozess gegen eine Mutter, die ihr Kind über Monate hinweg gequält haben soll, die Behörden in den Fokus. Zwei Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe sagten über ihre Hausbesuche aus. Zuvor schilderte ein Kinderarzt am Landesgericht Krems das Leid des mittlerweile 13-Jährigen. Schon vor dem Urteil kündigen sich mögliche weitere Prozesse an.

Der Prozess um einen nunmehr 13-Jährigen, der von seiner Mutter im Waldviertel in eine Hundebox gesperrt und gequält worden sein soll, ist am Dienstag am Landesgericht Krems in Tag zwei gegangen.

Dabei wurden die medizinischen Aspekte beleuchtet, immer mehr gerät aber auch mögliches Behördenversagen in den Fokus, obwohl die Richterin betonte, dass dies Thema eines möglichen weiteren Prozesses sein könnte.

Opferanwalt Timo Ruisinger sagte gegenüber PULS 24, dass man sich eine Amtshaftungsklage zumindest überlegen werde. Durch den Verlauf des Prozesses fühle er sich in diesen Überlegungen bestärkt.

"Vater fühlt sich von Behörde im Stich gelassen"

Anwalt Timo Ruisinger im Interview

Ein Sozialarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe Waidhofen an der Thaya schilderte vor Gericht, dass es, bevor das Kind am 22. November 2022 ins Koma fiel, zwei unangekündigte Hausbesuche und einen Versuch, bei dem niemand öffnete, gegeben habe. 

28. Oktober: Erster Hausbesuch

Am 25. Oktober 2022 ging eine Gefährdungsmeldung der Schule bei der Behörde ein. Am 28. Oktober erfolgte der erste Hausbesuch.

Drei Tage seien wegen des Nationalfeiertages vergangen – und weil man keine weitere Dringlichkeit gesehen habe, sagte der Zeuge aus. Diese sehe man eher bei jüngeren Kindern. Der Zeuge betonte mehrmals, dass er ja streng nach Vorschrift gehandelt habe. 

Prozess bringt heftige Details

Beim ersten Hausbesuch sei ihm Uringeruch aufgefallen, den die Mutter mit den Hunden argumentiert habe. Es sei ihm auch aufgefallen, dass es in der Wohnung nur einen Schreibtischstuhl zum Sitzen gegeben habe. Beim Termin sei man deshalb gestanden. 

Außerdem sei da nur ein Bett zum Schlafen gewesen. Die Mutter habe angegeben, der Junge schlafe bei ihr im Bett. Am ersten Prozesstag wurde klar, dass das Kind wohl die meiste Zeit in Hundekörben geschlafen haben soll.

Das Kind habe schon beim ersten Besuch Verbände an den Armen gehabt, in der Wohnung sei es kühl gewesen, so der Sozialarbeiter. Seine Kollegin, die separat befragt worden war, sagte dazu, dass sie bei dem Besuch mit Mantel in der Wohnung gesessen, es mit Mantel aber angenehm gewesen sei.

Mehr zu den Hintergründen:

Der Sozialarbeiter meinte dann vor Gericht, man habe mit der Mutter die Gefährdungsmeldung besprochen – ihr gesagt, sie müsse zu Ärzten und ein zweites Bett besorgen. Im Kühlschrank der Frau habe man nicht nachgeschaut, obwohl in der Gefährdungsmeldung der Schule vom Gewichtsverlust des Kindes zu lesen war und davon, dass sich das Kind in der Schule zahlreiche Weckerl kaufen wollte, aber nicht bezahlen konnte.

Machte die Jugendhilfe einen Fehler?

Die Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe meinte dazu, sie habe mit ihrem Kollegen nach dem Hausbesuch darüber gesprochen, dass das ein Fehler gewesen sei. Ihr Kollege will sich an dieses Gespräch aber nicht mehr erinnern können. Er wurde von der Richterin mehrmals darauf hingewiesen, dass er sich nicht selbst belasten müsse.

Mit dem Kind habe man nicht allein gesprochen – man wollte vorher Vertrauen aufbauen und nicht gleich "mit Bomben auf Spatzen schießen". Der Bub habe die Frage nach einem Einzelgespräch nach einem Blick zur Mutter nicht beantwortet.

18. November: Der zweite Hausbesuch

Die Mutter habe dann ärztliche Befunde nachgereicht, auch habe es noch Telefonate gegeben. Nach einem gescheiterten Besuch am 4. November, erfolgte dann am 18. November, nach einer weiteren Gefährdungsmeldung eines Spitals, der zweite Hausbesuch. Dieses Mal kam der Sozialarbeiter allein. In der Gefährdungsmeldung ging es darum, dass die Mutter eine stationäre Behandlung des Kindes ablehnte.

Auch bei diesem Besuch habe man mit dem Kind nicht allein gesprochen. Der Sozialarbeiter schilderte, dass der damals 12-Jährige am Tisch gestanden sei und dort einen Text geschrieben habe. In der Wohnung sei es deutlich kälter gewesen, das Kind habe gezittert und blaue Hände gehabt. Auf die Frage, ob dem Kind kalt sei, habe es nur zur Mutter geschaut.

"Gefahr in Verzug" sah der Mitarbeiter der niederösterreichischen Kinder- und Jugendhilfe dennoch "zu keiner Zeit". Diese liege etwa bei einem Säugling mit Knochenbrüchen vor, meinte er.

Mehrmals sagte der Zeuge, dass er kein Mediziner sei und keine Aussagen zu Verletzungen oder Gewicht eines Kindes machen könne. Er verwies auf Dienstvorschriften und Dienstwege.

Termin bei Psychologin

Die Situation in der Wohnung sei ihm dennoch "auffällig" vorgekommen. So habe er etwa eine "Hörigkeit" gegenüber der Mutter festgestellt. Deshalb habe er einen Termin bei der Psychologin vereinbart – dieser wäre am 30. November gewesen.

Warum so spät, fragte die Richterin. "Dafür kann ich auch nichts", so der Zeuge. Die "Psychologin des Landes" sei eben nur zweimal pro Woche in der Bezirkshauptmannschaft. Zu dem Termin kam es nicht, das Kind fiel am 22. November ins Koma.

Hans Salzer, Kinderarzt und Gerichtlicher Sachverständiger, im Interview.

Jugendamt hätte Symptome sehen können

Davor hatte allerdings schon Kinderarzt Hans Salzer geschildert, dass die Symptome des Kindes auch schon am 18. November sichtbar gewesen wären.

Das Kind sei dann am 22. November "wirklich knapp gefunden worden", so Salzer. Es sei "tief bewusstlos" gewesen, "massiv abgemagert". Das Kind habe von Mai 2022 bis November 2022 rund 30 Kilo abgenommen und sei in dieser Zeit kaum gewachsen.

Der Mediziner attestierte eine "massivste Unterkühlung" und "chronische Erfrierungszeichen". Man habe den mittlerweile 13-Jährigen nur durch "massiv herzstützende Medikamente" am Leben halten können. Das Kind hätte Stufe 3 von 4 Stufen von Erfrierungserscheinungen erreicht. Stufe 4 sei tödlich. Außerdem habe das Kind Verkrustungen und Hämatome "verschiedenen Alters" gehabt.

Mittlerweile gehe es dem Kind aber zumindest körperlich wieder gut.

Opferanwalt Timo Ruisinger im Interview.

Eine ehemalige Lehrerin des Kindes schilderte in ihrer Zeugenaussage wiederum, wie sie mindestens fünfmal bei der Behörde nachtelefonierte – obwohl das nicht ihre Aufgabe sei. Sie wollte wissen, ob eh etwas unternommen werde. Sie war es, die die erste Gefährdungsmeldung machte. Erst vom Vater des Kindes habe sie erfahren, dass es eine zweite Gefährdungsmeldung durch ein Spital gegeben habe.

Außerdem, so die Lehrerin, habe sie durch Zufall erfahren, dass das Kind mal bei fremden Nachbarn anläutete und fragte, ob es dort schlafen könne. Die Polizei habe das Kind zur Mutter zurückgebracht.

Vater versteht das Jugendamt nicht

Nun lebt das Kind bei seinem Vater, der auch die alleinige Obsorge hat. Der Dreizehnjährige gehe gerne in die Schule und sei "der liebste Bub", führte der 37-Jährige am Dienstag vor als Zeuge vor Gericht aus.

Auch er verstehe nicht, dass das Jugendamt nicht reagiert habe. Ihm habe die Mutter seit Frühjahr 2022 fast jeglichen Kontakt zum Sohn verwehrt. Erst als der Bub im Spital war habe sie ihn angerufen, habe ihm aber nicht sagen können, was geschehen sei. Er sei am nächsten Tag ins Spital gefahren, die Mutter nicht, weil sie habe ja niemanden für die Hunde.

Anruf bei Rettung, "als würde sie Pizza bestellen"

Beachtenswert war auch die Aussage jener Sozialarbeiterin, auf deren Zureden die Mutter am 22. November schließlich doch die Rettung rief. Die Sozialarbeiterin beschrieb die Mutter dabei so "emotionslos", als würde sie eine Pizza bestellen. Kontaktiert wurde die Sozialarbeiterin, die die Mutter eigentlich nicht mehr beriet, von der Zweitangeklagten.

"Wirre Telefongespräche"

Aus der Rolle der Zweitangeklagten werde sie nicht schlau, sagte die Zeugin. Diese hätte sie zwar nach oft stundenlangen, "wirren" Telefongesprächen zur Hilfe geholt, dann aber gemeint, sie solle nicht in die Wohnung der Mutter gehen, weil sie Angst hätte. Außerdem habe die Zweitangeklagte andauernd ihre Stimmlage geändert – je nach Thema. Als sie die Wohnung dann doch betraten, sei die Situation "skurril" gewesen.

Das Kind sei neben einer Matratze am Boden neben der Hundebox gelegen, habe nur noch den Kopf leicht bewegt.

Erst als sie die Mutter vehement aufforderte, die Rettung zu rufen, habe diese das getan. Die Sozialarbeiterin meinte aber: Der Mutter könnte gar nicht bewusst gewesen sein, wie kritisch der Zustand des Kindes gewesen sei. Sie habe "psychotisch" gewirkt.

Anklage ausgedehnt, mögliche Folgeprozesse

Die Mutter könnte im Fall einer Verurteilung wegen versuchten Mordes bis zu lebenslange Haft ausfassen. Die Strafdrohung für die 40-Jährige wegen fortgesetzter Gewaltausübung als Beitrags- oder Bestimmungstäterin beträgt nach einer Ausdehnung der Anklage aufgrund schwerer Dauerfolgen bei dem Buben nun bis zu 15 Jahre. Urteile sind für Donnerstag geplant.

Sollte es zu einem Folgeprozess wegen möglichem Behördenversagen kommen, könnte das nur eine von zwei weiteren Fortsetzungen sein. Astrid Wagner, Anwältin der Mutter, deutete einen möglichen Prozess wegen mutmaßlichen Betrugs gegen die Zweitangeklagte an. Sie soll der Mutter Geld vom Verkauf eines Reihenhauses abgenommen habe, so der Vorwurf.

ribbon Zusammenfassung
  • Eine 33-jährige Mutter steht vor Gericht, da sie ihren Sohn von Juli bis November 2022 schwer misshandelt haben soll, woraufhin dieser ins Koma fiel.
  • Sie weist den Vorwurf des Mordversuchs zurück, räumt jedoch ein, das Kind gequält zu haben. Eine 40-jährige Frau, als Mittäterin angeklagt, beteuert, vom Leid des Kindes nur gewusst und nicht eingegriffen zu haben.
  • Die Verantwortung der Behörden wird durch anstehende Zeugenaussagen näher beleuchtet, nachdem die Mutter auch Kontakt zu Ärzten und Jugendamt hatte.
  • Ein Arzt sagte aus, Symptome hätte das Jugendamt bei einem Besuch schon sehen können.
  • Zwei Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe sagten über ihre Hausbesuche aus.
  • Schon vor dem Urteil kündigen sich mögliche weitere Prozesse an.