Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: Indirekte Drohung an die NATO

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Russland kündigte an, ab dem 20. Juli "Schiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, als potenzielle Träger militärischer Fracht und somit als Gegner" zu betrachten. Das ist gleichzeitig auch eine indirekt eine Drohung an die NATO.

Russische Streitkräfte: Die Bereitstellung von modernen Waffensystemen wird durch Korruption erheblich verzögert und erschwert; Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Soldaten sollen durch Herabsetzung der Tauglichkeitskriterien gemildert werden, auch Häftlinge werden eingezogen; der Nachschub hat mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wir schreiben das Jahr 2023. Vieles scheint sich allerdings seit mehr als hundert Jahren in Russland nicht geändert zu haben, denn die oben genannten Probleme beschreiben den Zustand der Baltischen Flotte Russlands, die unter dem Kommando von Admiral Sinowi Roschestwenski im Oktober 1904 auf eine 18.000 Seemeilen lange Reise entsandt wurde, um das in Port Arthur von der japanischen Flotte eingeschlossene 2. Pazifische Geschwader zu entsetzen. Der Bau der Schiffe wurde durch korruptives Verhalten der Werften behindert und verzögert, die Besatzungen waren schlecht ausgebildet und von Kriminellen durchsetzt, die Versorgung mit Kohle blieb ein Problem bis zum dramatischen Ende. Kurz nach dem Auslaufen kam es zu einem unrühmlichen Zwischenfall im Bereich der Doggerbank in der Nordsee, bei dem aus Angst, in Großbritannien gebaute japanische Torpedoboote würden im Schutz der Nacht die Flotte angreifen, das Feuer auf englische Fischerboote eröffnet wurde. Es gab Tote und Verletzte, auch eigene Schiffe wurden beschossen. Der folgenreiche Irrtum bescherte der Baltischen Flotte in der britischen Presse die Bezeichnung "Geschwader des tollwütigen Hundes", brachte Großbritannien und Russland an den Rand eines Krieges gegeneinander und verschärfte in der Folge die Probleme der Baltischen Flotte, sich mit Kohle zu versorgen. Als das Geschwader dann mehr als ein halbes Jahr später im Westpazifik eintraf, war Port Arthur längst gefallen, die Seeschlacht von Tsushima endete mit einer katastrophalen russischen Niederlage, welche letztlich auch jene im russisch-japanischen Krieg besiegelte. Bis heute gibt es russische Quellen, die darauf beharren, es habe sich nicht um englische Trawler, sondern um japanische Torpedoboote gehandelt.

MH17

Vor wenigen Tagen wurde der Ereignisse in der Ostukraine vor neun Jahren gedacht: Am 17. Juli 2014 war eine Verkehrsmaschine der Malaysia Airlines vom Typ Boeing 777 mit der Flugnummer MH17 von einer russischen Fliegerabwehrlenkwaffe abgeschossen worden. Alle Insassen, 283 Fluggäste - darunter 80 Kinder - und 15 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Ein Sondertribunal der Vereinten Nationen scheitert danach am Veto Russlands im Sicherheitsrat, Jahre später verurteilt ein Gericht in den Niederlanden drei Personen in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen, darunter der ehemalige Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU, Igor Girkin, ein ehemaligen Führer der separatistischen "Volksrepublik Donezk" und aktuell einer der schärfsten Kritiker der russischen Regierung wegen ihres aus seiner Sicht zu zögerlichen Vorgehens gegen die Ukraine. So wie Präsident Wladimir Putin besteht auch gegen ihn ein internationaler Haftbefehl. Die folgende Desinformationskampagne, durch die Russland versuchte, seine Beteiligung an der Urheberschaft dieses monströsen Verbrechens zu verschleiern und die Schuld der Ukraine zuzuschieben, kann als Lehrstück der in derartigen Fällen gehandhabten Vorgangsweise Russlands gelten. Sie konnte zwar die unabhängigen Gerichte nicht überzeugen, fiel aber bei Teilen der westlichen Öffentlichkeiten, die für Verschwörungserzählungen anfällig sind, aber sogar bei Russland-affinen Politiker:innen auf fruchtbaren Boden. Russland bestreitet bis heute eine Beteiligung am Abschuss von MH17.

Korruption und Unfähigkeit

Nun ist schon richtig, dass die Geschichte sich nicht wiederholt und es nicht immer einfach ist, aus ihr zu lernen. Und jedenfalls unseriös wäre es, aus historischen Ereignissen Prognosen für den Verlauf oder den Ausgang aktueller Krisen oder Konflikte ableiten zu wollen. Aber wenn über lange Zeiträume staatliche Systeme von bestimmten, sehr ähnlichen Grundmustern geprägt sind, darf zumindest die Frage erlaubt sein, inwieweit diese nicht auch in aktuellen Situationen zum Tragen kommen. Dass dies in Bezug auf Korruption und Unfähigkeit in Teilen der russischen Administration der Fall sein soll, darüber beklagen sich bekanntlich sogar namhafte russische Quellen. Täterschaft zu leugnen und unter Desinformation der Öffentlichkeit die Schuld dem Gegner zuzuschieben ist spätestens seit den Kriegsverbrechen von Butscha erwiesenermaßen auch aktuell ein Verhaltensmuster der russischen Autoritäten. Und Russland blockiert auch heute Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, gerade eben eine, mittels der die weitere humanitäre Hilfe in den von oppositionellen Kräften besetzten Gebieten in Syrien ermöglicht werden sollte. Russland trägt damit erheblich zu einer weiteren Verschärfung der humanitären Lage in diesem Raum und damit auch der Flüchtlingsproblematik für Europa bei.

Weiterer Gesichtsverlust für Putin

In Moskau musste Präsident Wladimir Putin jedenfalls einen weiteren Gesichtsverlust hinnehmen: Letztlich waren offenbar die immer verzweifelter werdenden Versuche der Regierung von Südafrika, anlässlich des bevorstehenden Gipfeltreffens der BRICS-Gruppe im Land den gegen Putin verhängten Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes zu umgehen, doch gescheitert. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, wurde nunmehr die Teilnahme Putins an dem Treffen abgesagt, er soll per Video zugeschaltet werden. Davor waren die Töne in Russland immer schriller geworden, Ex-Präsident Dimitri Medwedew sprach sogar davon, dass eine Verhaftung Putins einer Kriegserklärung gleichkäme. Es scheint, als ob Putin in seiner Schwäche nach der nach wie vor in Hintergründen und Verlauf rätselhaften Insubordination der Wagner-Gruppe mehr Konzessionen an die Hardliner zu machen hätte.

Getreideabkommen

So wurde zunächst eine Verlängerung des Abkommens über die Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine ausgesetzt. Rein theoretisch wird dadurch die Nutzung des Seewegs zum Export von ukrainischem Getreide erschwert, aber noch nicht verunmöglicht. Neben dem von Moskau ausgesetzten Abkommen zwischen Russland, der Türkei und den VN besteht nach wie vor eines zwischen der Ukraine, der Türkei und den VN. Darüber hinaus kann es der Ukraine eigentlich niemand verwehren, über internationale Gewässer Güter zu exportieren.

In diesem Verständnis äußerte auch der ukrainische Präsident Selenski Hoffnungen, dass ein Getreideexport auch ohne Zustimmung Moskaus weiterhin möglich sein würde. Doch nun setzte das russische Regime noch einen verschärfenden Schritt, der in seiner potenziellen Tragweite zu einer gefährlichen Eskalation führen kann: Russland kündigte an, ab dem 20. Juli "Schiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, als potenzielle Träger militärischer Fracht und somit als Gegner" zu betrachten. Damit nicht genug, würden "jene Länder, unter deren Flagge die betreffenden Schiffe fahren, zudem als Staaten betrachtet, die in dem Konflikt auf ukrainischer Seite" stünden. Der "Nordwesten und der Südwesten des Schwarzen Meeres" (also der gesamte Westen) werden als "unsicher für die Schifffahrt" bezeichnet.

Begleitet werden diese Ankündigungen eines militärischen Vorgehens gegen damit eigentlich alle ukrainischen Exporte über See (auch solcher, die vom Getreideabkommen gar nicht erfasst waren und daher nicht der Notwendigkeit einer Einwilligung Russlands unterliegen!) von schweren Angriffen mit Marschflugkörpern auf die Hafenstädte Odessa und Mykolajiw. Ziel dieser russischen Ankündigungen ist es zunächst, Ängste staatlicher und privater Unternehmen vor einem unwägbaren Risiko zu schüren, das mit einem Anlaufen ukrainischer Häfen verbunden wäre. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch indirekt eine Drohung an die NATO. Rechtlich gesehen darf eigentlich niemand die Ukraine daran hindern, Güter aus den eigenen Hoheitsgewässern in internationale Gewässer zu transportieren. In diesem Sinn bildete das Abkommen schon bisher eigentlich eine Konzession an Russland. Nachdem dieses aktuell nicht mehr existiert, ist die Frage, wie etwa die Türkei, Rumänien oder Bulgarien - alles NATO-Mitgliedsstaaten - reagieren würden, falls Russland militärische Aktionen knapp außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer setzen würde. Rumänien jedenfalls wurde seitens der Ukraine bereits wegen einer Nutzung seiner Hoheitsgewässer für Exporte angefragt.

Unter chinesischer Flagge

Die "Aufrechterhaltung freier und sicherer Seewege" zählt zu den erklärten Zielen vieler seefahrender Nationen, auf Wunsch der Mitglieder des Bündnisses kann auch die NATO, etwa im Rahmen der permanenten Seeoperation "Sea Guardian" im Mittelmeer (bei welcher eben im Ionischen Meer umfangreiche Seemanöver stattfanden) diese durchsetzen. Viele Schiffe, die bislang ukrainisches Getreide exportiert haben, fuhren unter chinesischer Flagge. Würde auch China im Falle eines Anlaufens eines ukrainischen Hafens durch eines unter seiner Flagge fahrenden Schiffes als Staat betrachtet, der "in dem Konflikt auf ukrainischer Seite steht"? Und wie sehen aus russischer Sicht die militärischen Möglichkeiten aus, die de-facto-Blockade durchzusetzen? Ist die Schwarzmeerflotte noch in einem entsprechenden Zustand? Und welchem Risiko setzt diese sich (wieder) aus, wenn sie in Reichweite von ukrainischen Drohnen und Marschflugkörpern operiert?

Es wird sich zeigen, ob alle diese Fragen aus russischer Sicht positiv zu beantworten waren oder die Hardliner im Kreml allenfalls auch als sommerliche Hitzköpfe zu bezeichnen sein könnten. Jedenfalls bleibt zu hoffen, dass es auf den operativen Ebenen nicht wieder den einen oder anderen gibt, der - wie vor mehr als 100 Jahren - im Nachhinein als "tollwütiger Hund" bezeichnet wird."

ribbon Zusammenfassung
  • Russland kündigte an, ab dem 20. Juli "Schiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, als potenzielle Träger militärischer Fracht und somit als Gegner" zu betrachten. Das ist gleichzeitig auch eine indirekt eine Drohung an die NATO.