Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: Der Stand der Dinge vor der Offensive

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Die lange geplante und erwartete ukrainische Offensive rückt näher. PULS 24 Militärkolumnist Gerald Karner bringt einen militärischen Überblick über die Lage der beiden Kriegsparteien.

Parallel zur Fortsetzung der Besuchsdiplomatie des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – aktuell nimmt er am Treffen von 47 europäischen Staats- und Regierungschefs in Moldau teil - rücken die militärischen Entwicklungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine wieder mehr in den Fokus der Beobachter.

Diese nehmen vonseiten der Ukraine immer stärker den Charakter der Vorbereitung der seit geraumer Zeit angekündigten und erwarteten ukrainischen Offensive an, wobei manche auch bereits von einer ersten Phase dieser Angriffsoperation sprechen.

Beide Kriegsparteien verstärken dabei ihre Anstrengungen, wobei es der russischen Seite offenbar weniger um die Durchsetzung der eigenen Absichten im Sinne ihrer Kriegsziele, sondern mehr um die Verhinderung der Umsetzung der ukrainischen Absichten zu gehen scheint. Nachdem im Winter der Versuch gescheitert war, den Widerstandsgeist der ukrainischen Bevölkerung – und die Unterstützungsbereitschaft des Westens – durch die Zerstörung der kritischen Infrastruktur der Ballungsräume zu brechen, versucht die russische Führung nunmehr, durch in regelmäßigen Abständen stattfindende, komplexe Angriffe aus mehreren Richtungen und unterschiedlichen Entfernungen mit Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Lenkwaffen vor allem die ukrainische Luftabwehr zu schwächen bzw. abzunutzen.

Angriffe im Hinterland

Verstärkte Angriffe auf militärische Ziele auch im westukrainischen Hinterland, mit denen u. a. versucht werden soll, die Zufuhr und Bereitstellung westlicher Waffensysteme zu behindern, zeigen die Nervosität der russischen Führung in Erwartung der ukrainischen Offensive.

Selbst wenn diesen russischen Angriffen der eine oder andere Erfolg beschieden war – so gelang ein empfindlicher Schlag gegen einen ukrainischen Militärflugplatz im westukrainischen Chmelnyzkyj und gegen ein Gebäude des ukrainischen Nachrichtendienstes in Kyjiw (in dem sich allerdings kaum Personal aufgehalten haben dürfte) -, nehmen sich die bisherigen Ergebnisse der russischen Operationen – mit Ausnahme des fortgesetzten Leidens der Zivilbevölkerung - eher bescheiden aus.

Dies liegt zum einen an der verhältnismäßig geringen Anzahl der in einer Angriffswelle jeweils eingesetzten Lenkwaffen, zum anderen an der nunmehr auf Grund der Verstärkung durch westliche Waffensysteme erheblich verbesserten Leistungsfähigkeit der ukrainischen Luftabwehr. Die russischen Angriffe am Boden hingegen kamen erwartungsgemäß nach der Einnahme von Bachmut zum Erliegen. Die Söldner der Wagner-Gruppe wurden – offenbar in einer eher chaotisch verlaufenden Aktion, bei der neuerlich schwere Verluste in Kauf genommen werden mussten – abgezogen, die Verteidigung dieses Raumes soll nunmehr, wie auch in anderen Frontabschnitten, in den Händen der regulären russischen Streitkräfte liegen, die nunmehr hauptsächlich aus Rekruten bestehen.

Russische Verluste

Dies führt vor Beginn einer ukrainischen Offensive zur Frage der auf beiden Seiten zur Verfügung stehenden Kräfte, auch im Licht der erlittenen Verluste. Neuere westliche Berechnungen kommen für die russischen Streitkräfte inklusive der Söldnergruppen zu dramatischen Ergebnissen: Diese bestätigen im Wesentlichen jene Annahmen, dass die Zahl der seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine Gefallenen und Verwundeten bei etwa 200.000 Mann liegen soll. Es ist dabei davon auszugehen, dass die Masse davon eher gut ausgebildete Vertragssoldaten waren, während es sich bei jenen etwa 300.000  bis 450.000 Soldaten, die sich nach westlichen Quellen inklusive Reserven derzeit in mehreren Linien tief gestaffelt in der Ost- und Südukraine zur Verteidigung einrichten, hauptsächlich um Rekruten handeln dürfte.

Zumindest zahlenmäßig weist Russland damit eine Überlegenheit auf, stehen der Ukraine doch "nur" zwischen 75.000 und 100.000 Soldat:innen für eine Offensive zur Verfügung, nach verlässlichen Quellen in drei bis vier großen Gruppen, die aus insgesamt bis zu zwölf mechanisierten Brigaden bestehen sollen, ausgerüstet größtenteils mit modernen westlichen Waffensystemen.

Fachleute wissen allerdings, dass eine Gegenüberstellung der schieren Zahl der an der gesamten Front eingesetzten Soldaten für eine Beurteilung der Erfolgsaussichten in einer Schlacht nicht ausschlaggebend ist, sondern diese vielmehr das Ergebnis mehrerer anderer Faktoren darstellt, wie etwa die Qualität der eingesetzten Kräfte und der Waffensysteme sowie Planung und Führung der Operationen.

Angriffe im Hinterland

In diesem Verständnis können aus den Ereignissen der letzten Tage durchaus einige Schlüsse gezogen werden. Die Ukraine dürfte demnach die Initiative ergreifen, indem zunächst auch mit den nunmehr verfügbaren britischen Marschflugkörpern mit großer Reichweite russische Gefechtsstände, Feldlager und logistische Depots in der Tiefe des russisch besetzten Raumes angriffen werden.

Gleichzeitig haben intensive Täuschungs- und Ablenkungsoperationen begonnen. So werden Scheinstellungen ausgehoben, Scheinangriffe gefahren und Attrappen von Panzerartillerie in Stellung gebracht. Besonders aber die Aktivitäten von russischen Anti-Putin-Paramilitärs in den russischen Gebieten Brjansk und Belgorod an der nordöstlichen Grenze der Ukraine decken die Schwächen des russischen Dispositivs schonungslos auf: Diese Gruppierungen dringen über offenbar ungesicherte oder durch wenige Rekruten nur schwach geschützte Grenzabschnitte rasch auf russisches Territorium vor, zerstören dort Verwaltungsgebäude und Einrichtungen der Sicherheitskräfte und kehren dann wieder in die Ukraine zurück, um wenige Tage später Ähnliches in anderen Grenzräumen zu wiederholen.

Dies zwingt die russische Führung dazu, Reserven aus anderen Frontabschnitten abzuziehen. Trotz gegenteiliger Beteuerungen Russlands werden diese Aktivitäten auch aktuell noch immer fortgesetzt, womit nicht zuletzt auch gegenüber der teilweise evakuierten Zivilbevölkerung ein enormer Prestigeverlust für das russische Regime verbunden ist, das offenbar nicht in der Lage ist, für den Schutz der eigenen Grenzen zu sorgen.

Prestigeverlust

Eine besondere Art von Prestigeverlust musste die russische Führung allerdings am 30. Mai hinnehmen, als es – mit welcher Urheberschaft immer - acht bis zwölf Drohnen ukrainischer Bauart am helllichten Tag gelang, in einen der nominell am besten geschützten Lufträume einzudringen, über die Russland verfügt: den über der Hauptstadt Moskau. Dabei entging der westlichen Öffentlichkeit weitgehend, dass ein Einschlag – ob jetzt von einer bereits abgeschossenen oder noch aktiven Drohne ist dabei unerheblich – im Vorort Rublevka erfolgte. Dort befinden sich die Datschen der höchsten russischen Funktionäre und ihrer Familien, darunter jene von Wladimir Putin, des als potenziellen Nachfolger Putins gehandelten Premierministers Mikhail Mishustin und von Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Die Botschaft: Das Regime ist nicht in der Lage, selbst das innerste Machtzentrum zu schützen.

Bis jetzt dürften schwere Regenfälle den unmittelbaren Beginn der ukrainischen Landoffensive verzögern. Inwieweit die russischen Kräfte die besetzten Territorien besser zu schützen in der Lage sind als den Luftraum über Moskau werden wahrscheinlich die nächsten Wochen zeigen.

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  • Die lange geplante und erwartete ukrainische Offensive rückt näher.
  • PULS 24 Militärkolumnist Gerald Karner bringt einen militärischen Überblick über die Lage der beiden Kriegsparteien.