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Wie "abgearbeitet" ist Türkis-Grün?

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Das gebetsmühlenartige Bekenntnis zum "Abarbeiten" des Regierungsprogramms reicht längst nicht mehr. Die multiplen Krisen verlangen neue Antworten - inklusive der "Generalsanierung" des Politik-Vertrauens. Ein glaubwürdiger programmatischer Neustart bei der Regierungsklausur ist überfällig.

Es ist eine der sympathischeren Anekdoten über das Innenleben der Regierung, die unter türkis-grünen Insidern kursieren. Der gelernte Mediziner Wolfgang Mückstein war nach dem Rücktritt von Rudolf Anschober am Montagmorgen des 19. April 2021 gerade zum neuen Gesundheitsminister angelobt worden. Am gleichen Nachmittag stand bereits seine erste Regierungsklausur an. Es war zugleich erst die zweite des höchst ungleichen Parteien-Bündnisses. 

Die türkis-grüne Regierung wollte nach mehr als einem Jahr voll mit Katastrophen-Warnungen, Krisen-Ängsten und Lockdowns im Frühjahr 2021 Aufbruchstimmung signalisieren. Alle Minister sollten dazu erst nur intern ihre Pläne für die kommenden Wochen und Monate präsentieren. Die  Inszenierung musste sich corona-bedingt noch mit den bekannten, unspektakulären Bildern aus dem Ministerratssitzungs-Saal bescheiden. Allein für die Pressekonferenz konnten die Medien-Regisseure des Kanzleramts  in einen ungewohnten und pompöseren Rahmen ausweichen, den Zeremoniensaal  in der Wiener Hofburg.

Mücksteins erhellender Fauxpas

Zugleich mit der Homeoffice-Klausur im Kanzleramt wurde auch die wöchentliche Ministerratssitzung abgehalten. Der Regierungs-Newcomer Mückstein nahm den Eindruck mit: Bei der wöchentlichen Regierungssitzung sei es an der Tagesordnung, über die Vorhaben der nächsten Zeit zu reden. Mückstein brachte so auch in der darauffolgenden Woche zur routinemäßigen Ministerrats-Sitzung ein Bündel an Vorhaben mit und meldete sich auch zu Wort, um pflichteifrig darüber zu berichten.

Der Chef einer Gruppenpraxis war es offenbar gewohnt, gemeinsam regelmäßig zu planen. Was Mückstein bis dahin noch nicht wusste: Die wöchentlichen Regierungssitzungen am Ballhausplatz haben in der Regel nur formellen Charakter. In den meist nur zwanzig bis dreißig Minuten dauernden Zusammenkünften werden ein Dutzend Tagesordnungspunkte und mehr vorschriftsgemäß aber ohne jede Debatte oder ausführliche Wortmeldung gemeinsam abgenickt: Internationale Berichte und Abkommen, Personalentscheidungen und gelegentlich auch nationale Gesetzesvorhaben. 

Wolfgang Mückstein war als Gesundheitsminister nach knapp einem Jahr Geschichte. Der Hausherr im Kanzleramt ist längst ein anderer, auch tragende Darsteller der bislang letzten Regierungsklausur wie Finanzminister Gernot Blümel und Vielfach-Ministerin Elisabeth Köstinger sind nicht mehr mit von der Partie.

Im Alltag regieren Türkise und Grüne fraktionell getrennt vor sich hin

Der scheinbare Fauxpas Mücksteins war insofern erhellend, als dass der Regierungs-Newcomer - wie viele Staatsbürger - glaubte, bei der wöchentlichen Regierungssitzung würde jeden Mittwochvormittag bemüht und ausgiebig zur Sache geredet und politisch diskutiert.

Fakt ist aber: Auch in jener Regierung, die vorgibt, sich dem "Bestem aus beiden Welten" verschrieben zu haben, dominiert die rituelle Routine. Tatsächlich zur Sache geredet wird in den fraktionell streng getrennten Ministerrats-Vorbesprechungen, bei denen neben den jeweiligen Regierungs-Angehörigen auch die Klubchefs und andere Spitzenfunktionäre die politischen Vorhaben innerhalb des eigenen Machtbereichs für die nächsten Tage und Wochen durchgehen. Im Alltag handfest Politik gemacht wird auch in den jeweiligen Ministerkabinetten. Nur wenn man dafür auch formal die Zustimmung des anderen braucht, laufen zwischen Türkis und Grün die Drähte heiß, um Kompromisse und Abtausch-Geschäfte für die entsprechende Mehrheit im Nationalrat zu finden.

Parole "Koalitionspakt abarbeiten" statt flexibles mittelfristiges Planen

Mittel- und langfristige gemeinsame Vorhaben werden im Regelfall allein vor Start einer Koalition im Regierungsprogramm definiert. Danach wird, wie es im technokratischen Politsprech wenig animiert und animierend heißt, "das Regierungsprogramm abgearbeitet".

Die Koalitionäre wirken nach bald drei Jahren multipler Krisen auch persönlich "abgearbeitet". Corona, Russland-Krieg, Sanktions-Politik, Energie- und Teuerungskrise haben auch nach Eintausch einiger Ersatzspieler (bis auf den nunmehr schon dritten grünen Gesundheitsminister primär im türkisen Team) verständlicherweise auch persönlich massiv Spuren hinterlassen. Die Parole "Weiter gemeinsam abarbeiten" wird freilich als Regierungsmotto nicht reichen.

Multiple neue Krisen verlangen nach programmatischem Neustart

Die für 2023 und darüber hinaus notwendige politische Agenda  ist längst eine andere als jene, die Sebastian Kurz und Werner Kogler an der Jahreswende 2019/2020 in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben haben.

Dank neuer Impfstoffe und neuer Medikamente ist die  Coronakrise beherrschbar geworden. Das macht es zum einen möglich, eine Regierungsklausur im gewohnten Stil zu inszenieren: An einem Ort fernab vom Ballhausplatz; verteilt auf zwei Tage, von denen an einem  tatsächlich hinter verschlossenen Türen getagt und auf mediale Inszenierung weitgehend verzichtet wird. Erst am Tag danach ist eine Verkündigungs-Pressekonferenz angesagt.

Die Post-Pandemie-Ära verlangt aber nicht nur nach einem adaptierten Stil, sondern nach einem inhaltlichen Neuanfang samt runderneuertem Koalitionspakt. Die dieswöchige Regierungsklausur böte nach den vielen personellen Wechseln im Regierungsteam auch die Chance für einen programmatischen Neustart.

Denn die Herausforderungen für die verbleibenden maximal eineinhalb Jahre Türkis-Grün bis zur fälligen Neuwahl im Herbst 2024 sind heute massiv andere und waren 2020 beim besten Willen nicht absehbar. Die Krisenfolgen von Corona, Krieg und Teuerung gehen zudem weit über materielle Nöte und gesetzliche Notwendigkeiten hinaus. 

Van der Bellen fordert ungeduldiger denn je Generalsanierung des Politik-Vertrauens 

Der Bundespräsident hat schon vor Monaten von den politischen Akteuren, und damit allen voran von der Bundesregierung, eine Generalsanierung des Vertrauens in die Politik verlangt. Er hat diese Forderung, für seine Verhältnisse ungewöhnlich ungeduldig, zum Jahreswechsel erneuert.  

Alexander Van der Bellen spricht damit wohl auch vielen Österreichern aus der Seele. Es ist nicht damit getan, dass der Kanzler ob der signalisierten Ungeduld aus der Hofburg ein paar bekannte Gesetzesvorhaben aufzählt und schmallippig Richtung Hofburg wissen lässt, er sei allein dem Parlament verantwortlich.

Der Auftakt ins Finale von Türkis-Grün bei der dieswöchigen Regierungsklausur wird zeigen: Steht weiterhin nur das wenig inspirierende "Abarbeiten" eines Regierungsprogramms  auf der Agenda, das von der Wirklichkeit längst überholt ist und lediglich als kleinster gemeinsamer Nenner reicht, um sich gemeinsam bis zum Wahltermin 2024  zu schleppen? Oder schaffen es Karl Nehammer und Werner Kogler doch noch, die in historischen Umbruchs-Zeiten total unzureichende Klausur- und Regierungs-Routine zu durchbrechen?

Josef Votzi ist Journalist und Kolumnist des Magazin "Trend": Seine wöchentliche Kolumne "Politik Backstage" jeden Freitag neu auf trend.at

ribbon Zusammenfassung
  • Das gebetsmühlenartige Bekenntnis zum "Abarbeiten" des Regierungsprogramms reicht längst nicht mehr.
  • Die multiplen Krisen verlangen neue Antworten - inklusive der "Generalsanierung" des Politik-Vertrauens.
  • Ein glaubwürdiger programmatischer Neustart bei der Regierungsklausur ist überfällig, schreibt Kolumnist Josef Votzi.

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