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Zwischen Aufbruch und Zuversicht: Queeres Leben in Ungarn

Heute, 04:02 · Lesedauer 9 min

Wenn Vivien Winkler und Laura Toth Hand in Hand durch die Straßen Budapests spazieren, sehen sie sich manchmal mit schiefen Blicken oder abschätzigen Kommentaren konfrontiert. Anstatt diese Bemerkungen zu ignorieren, geht die 27-jährige Vivien auf die Passanten zu: "Ich frage sie, was ist genau das Problem?", sagt Vivien. "Hältst du nicht Hände mit deinem Ehemann?", sie gestikuliert energisch, ihre Augen verengen sich: "Das ist nur Liebe, das ist normal."

Vor etwa zwei Jahren begann die Liebesgeschichte der beiden Frauen. Die damals 35-jährige Laura, die als Tontechnikerin und DJ arbeitet, veranstaltete in einem Budapester Club eine Party, als sie auf Vivien traf. Die beiden kamen ins Gespräch und fanden sich schnell zueinander hingezogen. "Dann zeigte ich ihr meine Gedichte und sie tat dasselbe. Ich dachte mir: Oh mein Gott, was ist hier los?", Laura lächelt, wenn sie sich daran erinnert. Seit nun zwei Jahren ist das queere Paar zusammen und teilt sich den Alltag mit ihrem Dackel Kiki.

Laura ist ursprünglich in Szeged aufgewachsen, einer mittelgroßen ungarischen Stadt nahe der serbischen Grenze. Damals wusste sie nicht, dass sie lesbisch ist, auch in ihrem Umfeld war Queerness kein Thema. Mit 14 Jahren sah Laura im Fernsehen, wie sich die Sängerinnen des russischen Pop-Duos "t.A.T.u." küssten: "So etwas habe ich noch nie gesehen." Eine solche Szene wäre heutzutage im ungarischen Fernsehen vor 22 Uhr verboten. Denn im Jahr 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das Medienanbietern verbietet, Queerness abzubilden oder zu fördern. Eszter Mihály, Juristin bei Amnesty International Hungary, erklärt im Gespräch mit der APA, dass entsprechende Sendungen nur erlaubt sind, wenn sie explizit als "nicht für Minderjährige" gekennzeichnet sind. Bei Verstößen drohen den Medienunternehmen Geldstrafen.

Das Gesetz ist Teil einer Reihe von Maßnahmen, mit denen die Regierung unter Viktor Orbán die Rechte von sexuellen Minderheiten weiter einschränkt. Im Frühjahr dieses Jahres wurde vom Parlament eine Verfassungsänderung bewilligt, die durch die Zwei-Drittel-Mehrheit der Koalition aus Fidesz und der ungarischen Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) beschlossen wurde. Die Änderung erlaubt der Regierung Versammlungen zu verbieten, wenn sie LGBTQ+-Themen behandeln. Organisatoren und Teilnehmer solcher Versammlungen können von der Polizei mittels Gesichtserkennungstechnologien identifiziert werden und mit umgerechnet 500 Euro Bußgeld bestraft werden.

Oppositionspolitikerin: Orban stellt sich als Beschützer dar

Bei der entscheidenden Abstimmung im Parlament waren ungarische Oppositionsparteien nicht anwesend. Doch auch ihre Gegenstimmen hätten das Ergebnis, angesichts der Mehrheit von Fidesz und KDNP, nicht verändern können. Katalin Cseh, Mitglied der liberalen und pro-europäischen Oppositionspartei "Momentum", ist Teil einer parteiübergreifenden Intergruppe, die sich für die Rechte von LGBTQ+ Personen in Ungarn einsetzt. Die Politikerin kritisiert im Gespräch mit der APA, dass Fidesz und regierungsnahe Medien gezielt mit Desinformation arbeiten, um soziale Spannungen umzulenken. Für diverse Probleme wie steigende Preise oder die wachsende Armut präsentiere die Regierung immer wieder Sündenböcke, wie etwa die EU, Migranten oder queere Menschen. Orbán stelle sich dabei als Beschützer dar: "Aber letztendlich kann man sich mit Propaganda keine Lebensmittel kaufen", so Cseh. Die Politikerin argumentiert, dass die Verantwortung für die politische Lage jedoch nicht allein in Budapest liege und fordert, dass die Europäische Union entschlossener gegen Mitgliedstaaten vorgehen müsse, die gegen gemeinsame Grundwerte verstoßen.

Der politische Analyst Zoltán Ranschburg sieht die politische Situation hingegen weniger als europäisches, sondern vor allem als ungarisches Problem an. Im Gespräch mit der APA kritisiert der Politikexperte die frühere Opposition, die seiner Ansicht nach zu viel von der Europäischen Union erwartet habe und ihren Einfluss auf die ungarische Politik überschätzt habe. Die Ursachen seien hausgemacht und müssten daher von der ungarischen politischen Elite selbst gelöst werden. "Zu erwarten, dass die Lösung aus dem Ausland kommt, ist unrealistisch", resümiert Ranschburg. Zwar könne die EU mit Sanktionen und eingefrorenen Fördergeldern Druck ausüben, doch eine großflächige politische Veränderung könne nur in Ungarn selbst entstehen.

Bevölkerung laut Umfrage tolerant

Obwohl seit 2012 die Ehe in Ungarn ausschließlich als Zusammenschluss von Mann und Frau definiert ist, zeigt sich die Bevölkerung in Umfragen tolerant gegenüber der gleichgeschlechtlichen Ehe. Laut einer Umfrage aus dem Vorjahr, die im Auftrag der LGBTQ+-Organisation Háttér Society durchgeführt wurde, befürwortet knapp die Hälfte der ungarischen Bevölkerung die Ehe für alle. 72 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass trans Personen ihr Geschlecht und ihren Namen in offiziellen Dokumenten ändern dürfen sollten.

Ranschburg erklärt, dass Fidesz deshalb das Thema gleichgeschlechtliche Ehe kaum aufgreife, weil LGBTQ+-Themen keine Themen seien, die die Mehrheit der Bevölkerung politisch beschäftigt. Deshalb lasse sich daraus auch wenig politisches Kapital schlagen. Hinter dem Schutz von Kindern hingegen stehe eine klare gesellschaftliche Mehrheit, was Fidesz in der politischen Kommunikation einsetzt: "Wenn Fidesz über LGBTQ+ spricht, wird das Thema anders gerahmt. Für Fidesz, für Orbán, ist es eine Frage des Kinderschutzes", so Ranschburg. Damit könne die Regierung das Thema für die breite Öffentlichkeit relevanter machen und eine größere Anhängerschaft mobilisieren. Die Regierung verbreite laut dem Experten gezielt ein anderes Narrativ: "Queere Menschen wollen in Kindergärten gehen und an Kindern Geschlechtsumwandlungen vornehmen lassen. Das ist die Linie der Regierung".

Háttér Society setzt sich für Rechte sexueller Minderheiten ein

Im Jahr 2021 wurde die "Gesetzesnovelle für ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und für den Kindesschutz" verabschiedet. Sie verbietet, dass Minderjährige an Schulen über Queerness aufgeklärt werden oder externe Bildungsträger, wie etwa NGOs oder Experten, an Schulen Vorträge halten, insofern sie nicht registriert sind. Dieses Gesetz betrifft insbesondere Dorottya Kutassy in ihrer Arbeit. Sie arbeitet seit mehreren Jahren bei der Háttér Society, der ältesten Organisation Ungarns, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzt. Begonnen habe alles vor 30 Jahren mit einer Telefon-Hotline, inzwischen reicht das Angebot von Rechtsbeistand bis zu sozialen Unterstützungsprogrammen. Kutassy leitet verschiedene Bildungsprojekte, doch die politische Landschaft und die strengen gesetzlichen Auflagen rund um LGBTQ+ Themen, führen zu großer Verunsicherung: "Wir stellen ein Projekt auf die Beine und im nächsten Monat stellt sich heraus, dass es illegal ist, es durchzuführen", erläutert Kutassy.

Insbesondere Transpersonen seien von der repressiven Politik betroffen, erläutert Kutassy. Im Jahr 2020, wurde inmitten der COVID-19 Pandemie ein Verbot der rechtlichen Geschlechtsanerkennung eingeführt. Kutassy ist überzeugt: "Die Möglichkeit das Geschlecht in öffentlichen Dokumenten zu ändern, ist nicht nur eine Formalität, sondern rettet Leben". Seit dem Verbot habe der Bedarf an sozialer Unterstützung stark zugenommen. Aus diesem Grund rief die Háttér Society vor einem Jahr ein eigenes soziales Unterstützungsprogramm ins Leben.

Seit Beginn des Programms arbeitet Ármin Kőnig als Sozialarbeiter für die Organisation. Das Angebot des Programms richtet sich vor allem an Menschen mit praktischen Anliegen: Wohnen, Arbeit, Gesundheitsversorgung, sowie administrative Fragen. Ármin, der selbst trans und nicht-binär ist, erklärt, dass in ruralen Gegenden queere Menschen mit einer viel größeren Isolation zu kämpfen. Zudem kämpfen sichtbar queere Menschen mit der Jobsuche, weshalb die meisten seiner Klienten nach Budapest ziehen wollen. In der Hauptstadt sei die Jobsuche in der Hauptstadt etwas leichter, da hier internationale Unternehmen ihren Sitz haben, die in der Regel Antidiskriminierungsrichtlinien haben.

Ballroom-Szene als wichtiger Ankerpunkt für queere Menschen in Budapest

Vor vier Jahren ist auch Domi vom Land nach in die Hauptstadt gezogen. Seither ist der Psychologiestudent Teil der heimischen Ballroom-Szene. Hierfür trainiert Domi regelmäßig mit anderen Tänzern in einem kleinen, unscheinbaren Tanzstudio in Budapest. Die Luft ist schwül, das Neonlicht pink, während die Tänzer über das Parkett wirbeln. Sie improvisieren zur Musik, üben Posen und "Dips". Aus den Lautsprechern dröhnt der Bass, der sich mit dem Jubel der anderen Tänzer vermischt. Im Mittelpunkt tanzt meist eine Person, während die anderen zuschauen, jubeln und klatschen. Gemeinschaft und gegenseitige Bestärkung sind ein zentrale Elemente der "Ballroom"-Kultur.

Die "Ballroom"-Kultur hat seinen Ursprung in der queeren afro- und lateinamerikanischen Szene in den USA. Hier in Ungarn stellt sie auch einen wichtigen Ankerpunkt für queere Menschen, wie Domi dar. In seiner Jugend am Land wurde er in der Schule gemobbt, weswegen er auch nicht gerne in seinen Heimatort fährt: "Wenn ich an einem Freitagabend auf eine Party gehe oder ausgehen würde, denke ich immer: Okay, wer wird etwas Blödes sagen, wer wird mich zusammenschlagen, wer wird sonst irgendetwas tun, das ich an einem Freitagabend nicht erleben möchte. Aber hier habe ich dieses Gefühl nicht.". Seit ihrer Entstehung bot die Ballroom-Szene für viele Menschen, die in ihrer eigenen Familie keine Akzeptanz fanden, einen Art Wahlfamilie. Das gilt auch für die Gemeinschaft in Budapest, auch wenn sie kleiner wird. Domi erzählt, dass es nur wenige Veranstaltungen gebe, da die Sponsoren fehlen und vieles privat finanziert wird. Deshalb mache sich Sorgen, dass immer mehr Mitglieder der Szene ins Ausland ziehen.

"Wenn wir das Land verlassen müssen, dann werden wir das"

Auch das queere Paar, Vivien und Laura, sitzt mental auf gepackten Koffern. Doch eigentlich möchten sie in Budapest bleiben: "Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich bis zu meinem letzten Atemzug hier sein möchte. Aber mir ist, als würde mir die Luft sehr schnell ausgehen", sagt Vivien mit bedrückter Stimme. Laura unterstreicht die Aussage ihrer Partnerin: "Wir haben eine tolle Wohnung, eine wirklich nette Gruppe an Freunden, wir mögen unser Leben hier. Aber wenn wir das Land verlassen müssen, dann werden wir das".

Als die Regierung begann, das Verbot der Pride mit dem Schutz von Kindern zu begründen, bemerkte Laura, dass sie sich Gedanken darüber machte, wenn sie vor Kindern die Hand ihrer Partnerin gehalten hat. "Da war das Thema immer stärker in den Medien und ständig vor meiner Nase. Ich habe unterbewusst die Auswirkungen davon gespürt". Heute spaziert das Paar wieder Hand in Hand durch den kleinen Park in ihrer Nachbarschaft, Hund Kiki trottet voraus. Sie setzen sich auf eine Bank, sitzen Arm in Arm und beobachten das Geschehen: Senioren gehen spazieren, Kinder spielen in der Wiese, ein Jogger läuft vorbei. Keiner schaut das Paar schief an, niemand beleidigt sie. Es ist ein unspektakulärer Spätsommertag in Budapest. Genau das, was sich die beiden wünschen.

(Von Judith Kantner/APA)

Zusammenfassung
  • Seit 2021 verbietet ein Gesetz in Ungarn, queere Inhalte vor 22 Uhr im Fernsehen zu zeigen oder an Schulen ohne Altersbeschränkung zu thematisieren.
  • Eine Verfassungsänderung aus dem Frühjahr 2025 erlaubt es der Regierung, LGBTQ+-Versammlungen zu verbieten und Teilnehmer mit bis zu 500 Euro zu bestrafen.
  • Laut einer Umfrage befürworten knapp 50 Prozent der ungarischen Bevölkerung die Ehe für alle, und 72 Prozent unterstützen die Änderung von Geschlecht und Namen für Transpersonen in offiziellen Dokumenten.
  • Organisationen wie die Háttér Society, die seit 30 Jahren besteht, bieten trotz zunehmender Einschränkungen soziale und rechtliche Unterstützung für queere Menschen an.
  • Viele queere Menschen und Aktivist:innen sehen sich durch das politische Klima zur Auswanderung gezwungen, obwohl gerade in Budapest noch Rückzugsorte wie die Ballroom-Szene existieren.