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Armutsexperte: Sozialhilfe-Debatte "total verengt"

Heute, 04:01 · Lesedauer 7 min

Der Armutsexperte Martin Schenk plädiert dafür, bei der Debatte um die Sozialhilfereform den Blick zu weiten. Derzeit sei die Debatte "total verengt" - und zwar auf die Frage der Kindersätze. Es gäbe aber viele Probleme darüber hinaus, die "massiv" seien. "Wenn man über die einen Probleme spricht, sollte man über die anderen nicht schweigen", verwies er etwa auf Mängel bei Wohnkosten, Soforthilfe oder grobe Lücken bei Menschen mit Behinderungen oder chronisch Kranken.

"Die Debatte hat sich total verengt. Man sollte aber alle Probleme sehen", betonte Schenk, der u.a. als Sozialexperte für die Armutskonferenz und die Diakonie Österreich tätig ist. Man müsse "genauer hinschauen, dann sieht man, dass es viele Probleme und Missstände in den Bundesländern gibt", fordert er. Die Soforthilfe funktioniere nicht, es gebe keine klare Definition von Alleinerziehenden, die Wohnkosten seien "nicht tragbar", Menschen mit Behinderungen werde ein selbstbestimmtes Leben verweigert, Entscheidungsfristen am Amt seien zu lange und es würden "große Mängel im Vollzug" auftreten.

Es gehe auch um eine "anständige Haltung gegenüber Menschen mit wenig Geld und ohne Macht" und um die "Frage, wie man die Lücken im sozialen Netz bearbeitet", betonte der Experte. Das System sei für bestimmte Gruppen "erodiert", man spreche aber nur über Einzelfälle - wie etwa hohe Auszahlungsbeträge für kinderreiche Familien. "Das Reden über das eine hilft beim Schweigen über das andere", sieht er viele Punkte in der Debatte um die geplante Sozialhilfe-Reform vernachlässigt.

Für generell problematisch hält der Experte die Tatsache, dass in den bundesweiten Vorgaben, an die sich die zuständigen Bundesländer bei der jeweiligen Umsetzung der Sozialhilfe halten müssen, derzeit keine Mindest- sondern Höchstsätze vorgeschrieben sind. Aktuell (2025) liegt dieser für eine alleinstehende Person bei maximal 1.209 Euro pro Monat. Hier plädiert Schenk für die Einführung von Mindeststandards. Man müsse eine Regelung finden, um bedarfsorientierter agieren zu können.

Problematisch ist für den Armutsexperten auch die derzeitige Regelung, wonach sich der Wohnzuschuss nicht am tatsächlichen Wohnaufwand orientiert, sondern im Richtsatz beinhaltet ist. Vorgesehen ist, dass hier eine 60:40-Regelung gilt, sprich: Nur 40 Prozent der 1.209 Euro für das Wohnen verwendet werden. In der Realität seien die Wohnkosten oft deutlich höher, womit die Betroffenen auf jene Teile der Sozialhilfe zugreifen müssen, die eigentlich für die Bestreitung von Kosten für Lebensmittel, Kleidung und Co. gedacht wären. In manchen Bundesländern wird auch noch die Wohnbeihilfe, die entlasten würde, einbehalten. Schenk plädiert dafür, die tatsächlichen oft nach Wohnort unterschiedlichen Wohnkosten zu berücksichtigen, etwa, indem man diese je nach Bezirk festlegt.

Behinderte und chronisch Kranke benachteiligt

Schwere Benachteiligungen gibt es auch für Menschen mit Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen. Normalerweise gilt die Unterhaltsverpflichtung der Eltern bis zur Volljährigkeit des Kindes bzw. bei weiterführenden Ausbildungswegen bis höchstens 27 Jahren. Bei nicht erwerbsfähigen Behinderten oder chronisch Kranken gilt diese Grenze jedoch nicht. Diese können gezwungen werden, ihre Eltern auf Unterhalt zu klagen - auch, wenn sie längst volljährig sind. In manchen Bundesländern werden sie sogar gezwungen, ihren Eltern einen Teil der - oftmals geringen - Pension per Unterhaltsklage wegzunehmen, so Schenk.

Laut der derzeitigen Gesetzeslage haben all diese Betroffenen keinen Anspruch auf Sozialhilfe - solange die Eltern irgendwie für deren Unterhalt aufkommen können. Die Eltern solcher Kinder sind somit lebenslang unterhaltspflichtig.

Nicht schlagend wird diese Unterhaltspflicht dann, wenn ein betroffenes (erwachsenes) Kind sowohl Wohnen, Verpflegung und Betreuung im Rahmen des vollbetreuten Wohnens in der Behindertenhilfe erhält. Dann sind dessen Eltern in der Regel von Kostenbeiträgen befreit und bleiben auch die Ersparnisse des Betroffenen unangetastet. Wohnt der oder die Betroffene aber bei den Eltern - oder zieht er in eine eigene Wohnung, so hat er keinen Anspruch auf Sozialhilfe, sondern muss seine eigenen Ersparnisse aufbrauchen (so vorhanden) - und ist komplett vom Unterhalt der Eltern abhängig. Dieser muss notfalls sogar eingeklagt werden.

Damit seien Versuche für Menschen mit Behinderungen, selbstständig zu werden, zum Scheitern verurteilt. "Erwachsenwerden ist nicht erlaubt", so Schenk zur aktuellen Situation. Der Vorschlag des Sozialexperten lautet, dass die Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber Kindern mit Behinderungen mit dem 25. Lebensjahr begrenzt werden sollte. Damit müsse auch die bestehende Verpflichtung enden, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen ihre eigenen Eltern auf Unterhalt verklagen müssen.

Probleme bei Alleinerziehern

Ein Problem sieht der Sozialexperte auch bei der Handhabung der höheren Richtsätze für Alleinerzieherinnen und -erzieher. Derzeit werde je nach Bundesland unterschiedlich interpretiert, wer unter den Begriff "Alleinerzieher" fällt. In Oberösterreich etwa gelten nur Personen, die ausschließlich mit minderjährigen Personen in einer Haushaltsgemeinschaft leben, als alleinerziehend. Überschreitet nun ein Kind das 18. Lebensjahr, so erhält die oder der Alleinerziehende dann nicht mehr die erhöhte Sozialhilfe, ist aber weiter unterhaltspflichtig.

Schnelle Hilfe im Bedarfsfall nötig

Wichtig sei auch, dass den Betroffenen im Notfall schneller geholfen wird als derzeit. Die gesetzlichen Vorgaben verpflichten die Länder dazu, innerhalb von drei Monaten über Anträge zu entscheiden. "Das ginge auch zügiger", so Schenk. Diese drei Monate würden meistens ausgeschöpft, die Betroffenen müssten dann etwa bei der Caritas oder Diakonie um Übergangshilfen betteln. Zwar sei das Prinzip der "Soforthilfe" gesetzlich verankert, "das ist aber totes Recht". Bedeuten würde dies, dass Betroffene etwa für mehrere Tage Lebensmittel erhalten, wenn sie aufs Amt gehen. Hier würde aber sehr willkürlich und unterschiedlich agiert, so Schenk. "Es geht darum, dass man nicht lange warten muss", sagte er. Man müsse die zuständigen Ämter "zu einem ordentlichem Vollzug bringen".

Wichtig sei auch, dass neben der Möglichkeit der digitalen Beantragung der Sozialhilfe weiterhin immer auch eine persönliche niederschwellige Beantragung bzw. Beratung möglich ist. Die Bescheide müssten auch nachvollziehbar und in einfacher Sprache abgefasst sein, so die Forderung. Auch sollte es eine Pflicht zur Beiziehung von Sozialarbeiterinnen und -arbeitern bei Erstanträgen, drohenden Sanktionierungen und Abweisungen des Antrages (etwa wegen fehlender Mitwirkung) und bei Fragen der Feststellung bzw. Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit geben.

Meisten Sozialhilfeempfänger können gar nicht arbeiten

Die Debatte um Einzelfälle von Großfamilien mit sehr hohen Sozialhilfebezügen zu führen ist für Schenk in Ordnung, er betont aber, dass dieses Thema die anderen Problemfelder in diesem Sektor in den Hintergrund drängt. Auch erinnerte er daran, dass der Großteil der Bezieher von Sozialhilfe - 58 Prozent (laut Daten der Statistik Austria) - gar nicht arbeiten können: Weil sie in Pension sind, eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung haben, Kinder und Angehörige pflegen - oder selbst Kinder sind. All diese Personen - Kinder in Schulen oder in den Kindergärten, Pensionisten, Menschen mit Behinderungen bzw. einer schweren chronischen Krankheit oder Pflegebedürftige würden in der öffentlichen Debatte nicht vorkommen, so Schenk.

Nur 34 Prozent der Menschen in Sozialhilfe stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und können arbeiten. "Weitere acht Prozent arbeiten, ihr Job ist aber derart miserabel bezahlt, dass es nicht reicht zum Leben und sie Zuzahlungen aus der Sozialhilfe brauchen", so der Armutsexperte.

Nur 0,4 Prozent der Staatsausgaben

Die Sozialhilfe komme den ärmsten zwei Prozent der Bevölkerung zugute, mache aber nur 0,4 Prozent des Staatsbudgets aus, so die Armutskonferenz. "Der Anteil der Sozialhilfe am Sozialstaat wird völlig überschätzt und steht in keinem Verhältnis zu den aufgeregten Kampagnen in der Öffentlichkeit", so Schenk.

Zusammenfassung
  • Armutsexperte Martin Schenk kritisiert, dass die Debatte um die Sozialhilfereform zu stark auf Kindersätze fokussiert ist und andere gravierende Probleme wie Wohnkosten, Soforthilfe und Benachteiligungen bei Behinderten ausblendet.
  • Der aktuelle Höchstsatz für eine alleinstehende Person beträgt 2025 maximal 1.209 Euro pro Monat, wobei laut 60:40-Regel nur 40 Prozent davon für Wohnkosten vorgesehen sind, obwohl diese in der Realität oft deutlich höher liegen.
  • Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen sind besonders benachteiligt, da ihre Eltern lebenslang unterhaltspflichtig bleiben und sie vielfach keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, wenn Eltern unterstützen können.
  • Nur 34 Prozent der Sozialhilfeempfänger können tatsächlich arbeiten, während 58 Prozent nicht arbeitsfähig sind und weitere acht Prozent trotz Arbeit auf Sozialhilfe angewiesen bleiben.
  • Die Sozialhilfe kommt den ärmsten zwei Prozent der Bevölkerung zugute, macht aber nur 0,4 Prozent des Staatsbudgets aus, was laut Schenk in der öffentlichen Debatte überproportional dargestellt wird.