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Abtreibungsurteil: Triumph und Verzweiflung auf den Straßen der USA

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Nach der umstrittenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs haben etliche US-Bundesstaaten bereits weitgehende Abtreibungsverbote in Kraft gesetzt. In Staaten wie Arkansas, Kentucky oder Louisiana sind Abtreibungen nun nicht mehr erlaubt - auch nicht bei Vergewaltigungen oder Fällen von Inzest. Ausnahmen gibt es in der Regel nur für medizinische Notfälle. Eine Reihe liberaler Staaten kündigte dagegen an, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche weiter schützen zu wollen.

Jubel und Wut, Tränen und Freudengesänge: Die Entscheidung des Obersten Gerichts gegen das bisherige Abtreibungsrecht spaltet die USA. Befürworter und Gegner des Entscheidung des Supreme Court lassen ihren Gefühlen auf den Straßen freien Lauf. Manchmal, wie etwa in Washington, liegen zwischen Triumph und Protest nur wenige Meter.

Vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs in der US-Hauptstadt pustet eine Maschine Seifenblasen in die Luft. Partymusik wummert, junge Frauen strahlen. Jemand ruft, "wir haben gesiegt", ein anderer schwenkt einen symbolischen Grabstein mit den Daten 1973 bis 2022 - es sind die Daten vom Anfang und Ende des Grundsatzurteils zugunsten des Abtreibungsrechts.

"Ich bin so überglücklich, überglücklich", schreit die 18-jährige Studentin Faith Montgomery gegen die Musik an. Sie sieht nach der Entscheidung der mehrheitlich konservativen Richter eine "neue Ära" heraufziehen.

Wut und Unverständnis

Die Stimmung nur wenige Schritte davon entfernt könnte nicht gegensätzlicher sein. Dort herrscht vor allem Wut und Unverständnis. Amy Senkowicz ist entsetzt. Die 63-Jährige hatte mit 16 Jahren legal abgetrieben - nur wenige Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof Frauen das Recht auf diesen Eingriff garantierte. Nun fürchtet die dreifache Mutter eine Rückkehr zu den "Kleiderbügeln... und was sonst auch immer für verrückte Dinge Frauen früher taten in der Hoffnung, nicht mehr schwanger zu sein".

Zwischen den Teilnehmerinnen beider Demonstrationen kommt es immer mal wieder zu hitzigen Debatten. Bereitschaftspolizisten mit Helmen und Schilden stehen bereit - eingreifen müssen sie nicht.

"Sie haben uns alles genommen"

Ähnlich ist die Atmosphäre in Missouri, dem ersten Bundesstaat der USA, der direkt nach der Gerichtsentscheidung ein Abtreibungsverbot erließ. Während auch dort die Abtreibungsgegner feiern, können einige Demonstrantinnen vor der letzten Klinik, die bisher noch Abtreibungen vornahm, ihre Tränen kaum zurückhalten.

Auch Pamela Lukehart kämpft mit den Tränen. "Wir haben versucht, die Rechte und das Leben der Frauen zu schützen, und jetzt haben sie uns das alles genommen", sagt die 68-Jährige, die gemeinsam mit ihrer Enkelin zu der Klinik gekommen war. Mit gebrochener Stimme sagt sie dann noch: "Früher starben Frauen bei Abtreibungen", und "wir haben so hart gekämpft".

"Mein Körper, meine Entscheidung"

In vielen Städten treibt es vor allem Abtreibungsbefürworter zu Tausenden auf die Straßen. Improvisierte Transparente und hastig auf Pappkartons oder Papier gekritzelte Slogans sprechen in New York für die Verzweiflung der vorwiegend jungen Generation, die zwischen Union Square und Washington Square ihre Wut herausbrüllt: "Mein Körper, meine Entscheidung".

"Das ist völlig verrückt", schimpft Brandy Michaud. "Wir sind wieder 100 Jahre zurück." Auch sie kann es einfach nicht verstehen, "dass wir weiter kämpfen müssen". Dabei wirkt sie hilflos.

"Frauenrechte sind Menschenrechte"

Mitdemonstrant Andrew Reisman ist ebenfalls besorgt. "Frauenrechte sind Menschenrechte und diese Entscheidung ist die erste einer langen Liste, die unsere Rechte nach und nach abschaffen wird", sagt er. Er fürchtet, dass die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts als nächstes gegen die gleichgeschlechtliche Ehe vorgehen könnte - und sogar gegen die Empfängnisverhütung.

Anna Luis in Washington hätte gegen derartige Schritte möglicherweise wenig einzuwenden. Ihr geht die Entscheidung des Obersten Gerichts, mit der den einzelnen Bundesstaaten nun freisteht, Schwangerschaftsabbrüche zu erlauben, einzuschränken oder gänzlich zu verbieten, sogar nicht weit genug.

Die 24-jährige strikte Abtreibungsgegnerin plant mit ihrer Gruppe "Students for Life of America" bereits die nächsten Schritte. Sie rechnet damit, dass nun die Zahl der Abtreibungen mit Hilfe der "Pille danach" zunehmen wird, und will mit ihrer Gruppe sicherstellen, dass "nichts Illegales hinter den Kulissen abläuft". "Unser Ziel ist es, die Abtreibung komplett abzuschaffen."

Disoski: US-Abtreibungsurteil ist "absolute Horrorvorstellung für Frauen"

Das oberste US-Gericht hatte seine Entscheidung am Freitag veröffentlicht. Der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court machte damit den Weg für strengere Abtreibungsgesetze frei - bis hin zu kompletten Verboten.

Einige Staaten hatten Verbotsgesetze vorbereitet für den Fall einer anderen Rechtssprechung - sogenannte Trigger Laws. In einigen Bundesstaaten treten sie nun sofort in Kraft, in anderen dauert es etwa einen Monat. In manchen Staaten braucht es eine formale Bestätigung des Generalstaatsanwalts oder Gouverneurs.

US-Präsident Joe Biden äußerte sich am Samstag erneut erschüttert über die Entscheidung des Gerichts, das liberale Abtreibungsrecht des Landes zu kippen. In mehreren US-Städten kam es zu Protesten.

Proteste: "Mein Vergewaltiger hat mehr Rechte als ich"

Bereits am Freitag hatten in mehreren Großstädten der USA Tausende Menschen spontan gegen das Urteil protestiert, darunter in der Hauptstadt Washington, in New York, Los Angeles, San Francisco, Chicago, Austin, Denver und Philadelphia. In New York demonstrierten allein im Washington Square Park in Manhattan mindestens 1000 Menschen für das Recht auf Abtreibung. Demonstranten hielten am Freitagabend (Ortszeit) Schilder mit Aufschriften wie "Mein Vergewaltiger hat mehr Rechte als ich" in die Höhe und skandierten Slogans wie etwa "Abtreibung ist ein Menschenrecht". In den nächsten Tagen dürften weitere Demonstrationen folgen.

ribbon Zusammenfassung
  • Nach der umstrittenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs haben etliche US-Bundesstaaten bereits weitgehende Abtreibungsverbote in Kraft gesetzt. In Staaten wie Arkansas, Kentucky oder Louisiana sind Abtreibungen nun nicht mehr erlaubt - auch nicht bei Vergewaltigungen oder Fällen von Inzest. Ausnahmen gibt es in der Regel nur für medizinische Notfälle. Eine Reihe liberaler Staaten kündigte dagegen an, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche weiter schützen zu wollen.

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