APA/Marcel Köhler / Hamakom

Zerreißende Lebensfäden: "100 Songs" im Theater Nestroyhof

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Was wie ein fröhlicher Abend über Lieblingslieder klingt, entpuppt sich als Sache von Tod und Leben, als Auseinandersetzung mit dem Terror: "100 Songs" von Roland Schimmelpfennig handelt von den Momenten unmittelbar vor dem Terroranschlag auf einen Bahnhof. Es beschäftigt sich mit Menschen, die Sekunden später mitten drinnen sein werden, wenn "die Welt zerreißt". Mit der Österreichischen Erstaufführung startete das Wiener Theater Nestroyhof Hamakom gestern seine Saison.

Meist geht es um die zwei Minuten zwischen 8:53 Uhr und 8:55 Uhr an einem wunderschönen Septembermorgen, der einen letzten Spätsommertag ankündigt. Die einen fahren zur Arbeit, die anderen brechen mit Rucksack, Reiseführer und Landkarte zu einer Reise auf. Zwei Studenten diskutieren über die Struktur der romantischen Komödie, ein Mann denkt an den Streit mit seiner Frau, eine Frau daran, dass ihr langjähriger Seitensprung mit dem besten Freund ihres Mannes gerade aufgedeckt wurde. Ein Polizist blickt aus einem Fenster des anfahrenden Zuges, sieht die Kellnerin Sally im Bahnhofscafé und denkt sich: Was, wenn das die Frau meines Lebens wäre? Die Kellnerin spürt diesen Blick und lässt vor Schreck eine Tasse fallen.

Sechsmal fällt in den rund 100 Minuten, die Ingrid Langs Inszenierung der "100 Songs" dauert, eine Tasse in ein leeres Aquarium und zerbricht, fünfmal von der Bühnendecke, einmal aus der Hand einer von den übrigen Kolleginnen und Kollegen gehaltenen Schauspielerin. Es sind, neben einer im Ehestreit zerbrochenen Vase, die einzigen Knalleffekte dieser zurückhaltenden, ihre Zeichen sehr überlegt setzenden Inszenierung. Die eigentliche Tat, die weniger an den Wiener Terroranschlag im vergangenen Jahr als an die Anschläge auf die Bahnhöfe von Madrid 2004 und Bologna 1980 denken lässt, bleibt ebenso eine Leerstelle wie ihre Vorgeschichte und das Schicksal jener Menschen, mit denen sich Schimmelpfennigs 2018 für das Theater in Örebro geschriebenes Stück beschäftigt.

Vorwiegend sind es ganz realistische Lebensepisoden, an die erzählerisch oder spielerisch erinnert werden. Nur manchmal erinnert Schimmelpfennig daran, dass er bekannt ist für das Hereinbrechen des Unerklärlichen, für das Durchbrechen des Realismus. Dann ist etwa die Rede von Sleipnir, dem achtbeinigen Pferd Odins, vom geflügelten Pegasus, von den vier apokalyptischen Reitern. Auch da setzt Lang vor allem auf die Kraft der Imagination, erst am Ende wird sie eine Gestalt mit Pferdekopf auf die Bühne schicken.

Ein Darsteller-Sextett erzählt über die Lebenslinien, die sich in diesen wenigen Minuten im Fadenkreuz des Terrors kreuzen, springt in die unterschiedlichsten Rollen und intoniert immer wieder Songs, die in den Köpfen und Kopfhörern der Menschen präsent waren und von ihren Träumen und Sorgen, Hoffnungen und Ängsten erzählen. Im Radio lief zum Zeitpunkt des Anschlags gerade Kim Carnes "Bette Davies Eyes". Doch Karl Stirner und Sebastian Seidl, für Musik und Sounddesign zuständig, schütten einen nicht mit den Melodien dieser Playlist zu, sondern setzen eher auf irritierende, flirrende, wischende Geräusche. Umso mehr Raum bekommen jene Lieder, die das Ensemble selbst intoniert - von "A Road to Nowhere" über "Hey, Pippi Langstrumpf" bis zu einem gemeinsamen Jodler.

Sofia Falzberger, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf, Sören Kneidl, Gottfried Neuner und Tobias Voigt sind exzellent gecastet, ein scheinbar willkürliches Sample, mitten aus dem Leben herausgegriffen, glaubhaft sehr unterschiedliche Biografien anreißend. Den Riss, der durch ihr Leben geht, hat Vincent Mesnaritsch in die Bühnenrückwand eingearbeitet, die stilisierte Fensterfront eines auseinandergerissenen Eisenbahnwaggons. In ihm tauchen einmal plötzlich acht stumme Menschen auf, als eine Mischung aus Opfer und Gespenster auftretende Statisten. Es ist das einzige Mal, dass Ingrid Lang, die von Frederic Lion die künstlerische Leitung des Hamakom übernommen hat, sich zu einer großen, plakativen Regie-Geste entschließt. Ansonsten beeindrucken diese "100 Songs" vor allem durch Ruhe. Die Ruhe vor dem Orkan, vor dem tödlichen Riss, mit dem Lebensfäden getrennt werden.

(S E R V I C E - "100 Songs" von Roland Schimmelpfennig, Regie: Ingrid Lang, Bühne: Vincent Mesnaritsch, Kostüme: Alina Amman, Musik / Sounddesign: Karl Stirner, Sebastian Seidl, Mit Sofia Falzberger, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf, Sören Kneidl, Gottfried Neuner, Tobias Voigt. Österreichische Erstaufführung im Theater Nestroyhof Hamakom, Wien 2, Nestroyplatz 1, Vorstellungen bis 29. Oktober, www.hamakom.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Es beschäftigt sich mit Menschen, die Sekunden später mitten drinnen sein werden, wenn "die Welt zerreißt".
  • Mit der Österreichischen Erstaufführung startete das Wiener Theater Nestroyhof Hamakom gestern seine Saison.
  • Umso mehr Raum bekommen jene Lieder, die das Ensemble selbst intoniert - von "A Road to Nowhere" über "Hey, Pippi Langstrumpf" bis zu einem gemeinsamen Jodler.
  • Ansonsten beeindrucken diese "100 Songs" vor allem durch Ruhe.

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