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Zähflüssige Dystopie "Alle Lust" im Theater am Werk

Heute, 08:30 · Lesedauer 4 min

Was wäre, wenn die Menschheit den Tod besiegt hätte? Sie hätte unendlich viel Zeit. Das Alter würde nicht mehr in Lebensjahren, sondern in Berufsjahren angegeben. So verhält es sich zumindest in "Alle Lust", der neuen Produktion des Nestroy-prämierten Regieduos DARUM, die am Dienstag im Theater am Werk Kabelwerk Premiere feierte. Viel Zeit musste an diesem vierstündigen Abend auch das Publikum aufbringen. Dabei wurde jedoch deutlich: Die Unendlichkeit ist äußerst zähflüssig.

Der Tod und das Internet: Mit diesen beiden Motiven beschäftigen sich Kai Krösche und Victoria Halper in vielen ihrer Theaterarbeiten. In ihrer heuer zum Berliner Theatertreffen eingeladenen VR-Installation "[EOL]. End of Life" tauchten die Theaterbesucher in das Metaverse ein, um verlassene Welten zu erkunden und zu ewigem digitalen Weiterleben verdammte Avatare zu treffen. In "Ungebetene Gäste" begaben sich die beiden 2019 im Internet auf Spurensuche, um auf Basis der gefundenen Daten die Biografien von Verstorbenen für das Theaterpublikum aufzubereiten, mit der Hyperlinkinstallation "404-Totlink" schufen sie eine Reise durch die Reste trashiger Websites der 1990er Jahre.

In "Alle Lust", das gegen Ende des 21. Jahrhunderts angesiedelt ist, ist der Schauplatz der Handlung ausgerechnet ein Fernsehstudio, in dem sich Christian Reiner und Nanette Waidmann als Moderationsduo eingefunden haben, um in einer bombastischen Liveshow den letzten natürlichen Tod eines Menschen zu begleiten. Mittels eines kleinen Koffers, den der bald arbeitslose Palliativarzt (Simon Dietersdorfer) auf der Bühne präsentiert, sollen die letzten Gedanken des Künstlers Heribert Pirkelhofer hör- und sichtbar gemacht werden. Er hatte sich damals, irgendwann in den 2030er Jahren, dagegen entschieden, sich gegen den Tod impfen zu lassen und wie alle anderen eine "biologische Firewall" aufzubauen.

Mittels Videoeinspielung verabschiedet sich der Künstler (Helmut Wiesinger) von der Welt, auf der Bühne hat er rätselhafte Skulpturen aufgebaut, die seinen Tod, der in einem verhängten Kubus stattfinden soll, künstlerisch begleiten sollen. Doch Pirkelhofer ist nicht der einzige Gast. In einer Liveschaltung nach Stuttgart wird die allerletzte Geburt eines Babys übertragen, das die glückliche Mutter nach Jahrzehnten auf der Warteliste bekommen durfte. Feierlich erhält das Kind die Impfung. Ebenfalls per Video sind ein Priester und eine Wissenschafterin zugeschaltet, die das Geschehen jedoch eher halbherzig analysieren. Doch dann geschieht das, wovor sich alle Moderatoren von Livesendungen fürchten: der Ablauf gerät durcheinander, Pirkelhofer stirbt unerwartet im ersten Drittel der Show.

Unerwarteter Auftritt bringt überraschende Wende

Als die Sendung kurz vor dem Abbruch steht, kündigt sich jedoch ein unerwartetes Highlight an: eine Botschaft jener sieben herausragenden Köpfe, die sich einst entschieden haben, ihr Bewusstsein in die Cloud hochzuladen und in eine Künstliche Intelligenz einzuspeisen, wodurch einst eine Superintelligenz entstand. Um die Wartezeit zu überbrücken, gibt die Moderatorin Einblick in ihr Liebesleben, das sie mit ihrer bei einem versuchten gemeinsamen Selbstmord verstorbenen Partnerin führt, die mittlerweile als Avatar im Metaverse "lebt". Auch der Arzt gibt emotionale Einblicke und erzählt gleich zwei Mal vom Tod seines kleinen Sohnes, der vielleicht gerettet hätte werden können, wenn er sich aufgerafft hätte, eine GoFundMe-Seite zu erstellen, um Spenden für ein teures Medikament aus den USA zu beschaffen.

Und so vergeht ziemlich viel Zeit, bis die "Sieben" ihren großen Auftritt haben, der eine große, unerwartete Wende im unendlichen Leben der Protagonisten bereithält. Es ist eine durchaus aufwendige Inszenierung, die live auf der Bühne von den technoiden Klängen der Band other:M:other (Jul Dillier, Arthur Fussy und Judith Schwarz) begleitet wird. Matthias Krische hat die Bühne als multimediale TV-Show-Arena konzipiert, auf der viele große und kleine Screens flackern und die Kunstinstallationen am Ende zum Leben erwachen.

Dauerfeuer der Reizüberflutung

Und so entsteht auf optischer wie akustischer Ebene ein Dauerfeuer an Reizüberflutung, während die Dialoge allzu oft im Ungefähren bleiben und angerissene Motive ins Leere laufen. Ältere Zuschauer mögen sich dabei an endlos überzogene Ausgaben von "Wetten, dass ..?" erinnert fühlen. Wenn sich die Ewigkeit so anfühlt, entscheidet man sich gern für die Endlichkeit. Kurzer, ermatteter Applaus beendete den langen Abend.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "Alle Lust" von DARUM im Theater am Werk Kabelwerk. Idee und Text: Kai Krösche, Raum: Matthias Krische, Video: Victoria Halper & Kai Krösche, 3D-Character-Design: Victoria Halper. Mit u.a. Simon Dietersdorfer, Christian Reiner und Nanette Waidmann. Komposition und Live-Musik: Jul Dillier, Arthur Fussy und Judith Schwarz (other:M:other). Weitere Termine: 30. April sowie von 7. bis 10., 14. und 15. Mai. www.theater-am-werk.at)

Zusammenfassung
  • Die Produktion 'Alle Lust' des Regieduos DARUM thematisiert eine Zukunft, in der der Tod besiegt wurde und Menschen unendlich leben.
  • Im Mittelpunkt steht die Live-Übertragung des letzten natürlichen Todes eines Menschen in einem Fernsehstudio.
  • Ein Künstler, der sich in den 2030er Jahren gegen die Impfung gegen den Tod entschied, steht im Zentrum der Handlung.
  • Die Inszenierung wird von der Band other:M:other musikalisch begleitet und endet in einer Reizüberflutung.
  • Eine unerwartete Wende bringt die Botschaft von sieben Persönlichkeiten, die ihr Bewusstsein in eine Superintelligenz hochgeladen haben.