Wien Modern eröffnete im besten Sinne unangenehm
Das RSO spielte Stücke von George Lewis, Hannah Kendall und Jessie Cox, allesamt renommierte zeitgenössische Musikschaffende, die sich in ihrer Arbeit auf verschiedene Weise der afrikanischen Diaspora und deren auffallender Abwesenheit in der Klassischen Musik widmen.
Hierbei wird das sonst oft abstrakte Bewusstsein für gesellschaftliche Machtverhältnisse meisterhaft übersetzt in ein kollektiv spürbares Unwohlsein: Die vier Stücke eint das Gefühl des In-die-Welt-Geworfenseins, eine rastlose Orientierungslosigkeit. Das Hörerlebnis ist elektrisierend, den Zuhörenden wird kaum eine Atempause gegönnt: In unheimlich bildhafter Musik lassen dystopische Klänge in hoher Geschwindigkeit hastige Bewegungen vor dem inneren Auge entstehen. Scheinbar huschende Schritte, dicht gefolgt von flatterhaftem Trippeln, dann: abrupte Pause, ein kollektiver Atemzug des Orchesters - ein und aus - gefolgt von ruckartigen Richtungswechseln voller Höhepunkte. Zuhörende werden aus ihrer üblich-bequemen Passivität aufgerüttelt, die klassische Hierarchie des Aufbaus durcheinandergewirbelt: Die Welt steht Kopf - und das ist gut so.
Columbia-Professor und Komponist George Lewis sieht Instabilität als Nährboden für Veränderungen: "Ich hoffe, dass diese Musik nicht Stress, sondern Empathie erzeugt, denn vielfältige Formen des Weathering - ein Ausdruck für die chronische Belastung, die marginalisierte Gruppen durch Armut und Diskriminierung erleben - betreffen uns alle", sagte er im Vorgespräch. Seinen hohen Anspruch hat er an diesem Abend ohne Zweifel erfüllt, indem er die zahlreichen Gäste für die Dauer des Konzerts in den Körper einer Person mit Ausgrenzungserfahrungen versetzt hat. Als privilegierter Zuhörer fühlt man sich dabei stellvertretend für den klassischen Kanon der Musikgeschichte unangenehm ertappt unter dem Golddekor des Großen Saals. Angenehm? Keineswegs. Mitreißend? Absolut.
Zwischen Horror und Hoffnungsschimmer
Auch Hannah Kendall widmet sich in ihren vielfach ausgezeichneten Werken dem gelassenen Umgang mit gesellschaftlichen Lernkurven. Zur Aufführung kam bei der Festivaleröffnung das Stück "He stretches out the north over the void and hangs the earth on nothing", in dem die Komponistin die Gleichzeitigkeit des atlantischen Sklavenhandels und die Blütezeit der Klassik in eleganter Härte aufeinanderprallen lässt. Sie bewegt sich dabei leichtfüßig durch Referenzen von Schumanns Symphonie Nr. 2 bis zu Mozarts Jupiter-Sinfonie, die aus einer Spieluhr in die verlassene Stille klingt und das Stück gruselfilmartig beendet.
Das Gefühl der Fremdheit und die unerfüllte Sehnsucht nach dem vertrauten Ton, nach einer erwartbaren Abfolge der Ereignisse, überkommt die Hörenden auch bei Jessie Cox. Dieser lässt in "Schattenspiele" scheinbar einen zarten Horizont auftauchen, ehe sich erste Dissonanzen in den Dunst mischen. Die Stimmung changiert zwischen Horror und Hoffnungsschimmer, die Besucherinnen und Besucher starren gebannt nach vorne.
Man verlässt den Großen Saal nach nicht enden wollendem Applaus erschöpft vom Mitfiebern, aufgerüttelt und entstaubt. Die Musik hat ihre Aufgabe mehr als erfüllt: Subjektive Emotion zu einem kollektiven Erlebnis zu machen. Wien Modern hat diese transformative Kraft klug zum Einsatz gebracht, um die kulturelle Stimmenvielfalt endlich zu erweitern.
(Von Cosma Kremser/APA)
(S E R V I C E - https://www.wienmodern.at/)
Zusammenfassung
- Das Wien Modern Festival 2024 startete unter dem Motto "The Great Learning" mit einem Eröffnungskonzert des Radio-Symphonieorchesters unter Vimbayi Kaziboni im Wiener Konzerthaus.
- Zur Aufführung kamen Werke von George Lewis, Hannah Kendall und Jessie Cox, die sich mit der afrikanischen Diaspora und gesellschaftlichen Machtverhältnissen in der klassischen Musik beschäftigen.
- Die Musik erzeugte ein kollektives Gefühl von Unwohlsein und Aufgewühltheit, sodass das Publikum nach langem Applaus emotional bewegt und mit erweitertem musikalischem Horizont den Saal verließ.
