"Wer bin ich?": Paul Lendvai über seine vier Identitäten
So ein langes Leben muss ja einen Sinn gehabt haben, schließlich sind dabei jede Menge Erfahrungen zusammengekommen - so könnte man etwa die Motivation zusammenfassen, die Lendvai noch einmal zum Rückschauen und Resümieren animiert hat: "Wir müssen die Zeichen der Zeit entziffern, die Gefahren für unser Europa rechtzeitig erkennen und die Heilslehren der Hasser der liberalen Demokratie mit Fakten und Argumenten entzaubern. Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und zugleich tiefste Lehre aus meinem langen Leben, aus meinen vier Identitäten als Österreicher und Ungar, Jude und Europäer."
Diese vier Identitäten analysiert er ausführlich und versucht dabei stets, persönlich Erfahrenes mit allgemein Gültigem zu verbinden und daraus Erkenntnisse für Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Er habe als Ungarn-Flüchtling nur Positives in Österreich erfahren, betont er, und zeigt damit auch auf, dass Ressentiments gegen "Andere" keineswegs naturgegeben, sondern historischen Umständen wie politischen Absichten geschuldet sind.
Bücher von Paul Lendvai sind immer auch Namedropping, und auch diesmal ist die Erinnerung an seine eigene Karriere als Korrespondent (u.a. der "Financial Times") und politischer Journalist auch eine Auflistung von Begegnungen und Auseinandersetzungen mit prominenten Denkern und Politikern, die ihn geprägt haben. Wer den Nationalsozialismus und den Stalinismus erlebt hat, ist besonders dankbar für offenen Gedankenaustausch, zumal mit jenen, die als intellektuell herausfordernd und anregend empfunden werden - wie etwa Bruno Kreisky und Josef Taus -, während er auch diesmal keine Gelegenheit auslässt, seine Stimme zu erheben, um vor politischen Blendern und Scharlatanen zu warnen.
Zugehörigkeit zum Judentum
Seine Herkunft aus Ungarn, seine Erfahrungen in den Grabenkämpfen des kommunistischen Regimes und rund um die Intervention sowjetischer Truppen 1956 sind ebenso Teil der Identitätssuche wie seine Gewissheit, dass es auch im Orbán-Ungarn genug Persönlichkeiten, Freunde und Künstler gibt, die Mut machen: "Sie waren und sind die Hoffnungsträger eines neuen Ungarn, das in den freiheitlichen Traditionen von 1848, 1956 und 1989 verkörpert ist."
Seine Zugehörigkeit zum Judentum schiebe sich nicht nur durch die Tatsache, dass es neben ihm immer weniger Überlebende des ungarischen Holocausts gebe, sondern auch durch die seit dem Hamas-Überfall und dem anschließenden Gaza-Krieg vehement zugenommene Dramatik der Situation im Nahen Osten, ja der Juden weltweit, immer stärker in den Vordergrund, schreibt Lendvai.
Das große europäische Einigungswerk
Das Schlusskapitel "Zu Hause in Europa - Erinnerungen eines Europäers" fiel dem langjährigen Herausgeber der "Europäischen Rundschau" und ebenso langjährigen Moderator des "Europastudios" wohl besonders leicht. Und das gilt auch für seinen abschließenden flammenden Appell, sich vor Augen zu führen, "was wir Europäer verlieren, würde unsere Heimat Europa und ihr großes Einigungswerk, die gewiss unvollendete, aber lebenswerte Europäische Union, von innen und von außen zerstört".
Die Frage Paul Lendvais "Wer bin ich?", muss man nach der Lektüre seines neuen Buches daher wenig überraschend so beantworten: ein unermüdlicher Mahner, der seine Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass sich die Menschheit am Ende doch noch als lernfähig erweisen könnte.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Paul Lendvai: "Wer bin ich?", Zsolnay Verlag, 128 Seiten, 24,70 Euro; Gespräch zwischen Paul Lendvai und Michael Köhlmeier: Sonntag, 3.8., 11 Uhr, Theater im Park, Wien 3, Prinz-Eugen Straße)
Zusammenfassung
- Der 95-jährige Paul Lendvai, der seit fast 70 Jahren in Wien lebt und 1957 nach Österreich floh, reflektiert in seinem neuen Buch über seine vier Identitäten als Österreicher, Ungar, Jude und Europäer.
- Lendvai betont die Zerbrechlichkeit der Freiheit als zentrale Lehre aus seinem Leben und warnt angesichts aktueller politischer Entwicklungen vor Feinden der liberalen Demokratie.
- Angesichts der jüngsten Ereignisse im Nahen Osten rückt seine jüdische Identität stärker in den Vordergrund, während er zugleich die Bedeutung des europäischen Einigungswerks und der EU hervorhebt.