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Starker Start für Philipp Gloger als Volkstheaterdirektor

Heute, 07:26 · Lesedauer 6 min

Theater als lustvolles Nachdenken über den Zustand der Welt, gepaart mit unbändiger Spielfreude und einer Hommage an die Zauberkraft der Literatur: Jan Philipp Gloger hat am Freitag mit seinem Jura Soyfer-Abend "Ich möchte zur Milchstraße wandern!" einen bemerkenswerten Start in seine erste Saison als Volkstheaterdirektor hingelegt. Die Collage aus mehreren Stücken des 1939 im KZ Buchenwald verstorbenen Autors verdeutlichte dessen literarische Wucht wie politische Weitsicht.

Der Abend beginnt mit einem Monolog, der in die Welt jener Kleinkunstbühnen entführt, die zu Soyfers Zeiten unter den Zensurbedingungen des Ständestaats arbeiteten. Auf einer Bühne auf der Bühne sitzen die Schauspieler, Ensemble-Neuzugang Andrej Agranovski tritt als Jura Soyfer vor das Publikum: Die geplante Vorstellung könne nicht stattfinden, der Theatersaal sei kaum geheizt, die Schauspieler übermüdet und mit der Technik stimme auch etwas nicht. Wozu überhaupt Theater?, fragen sich die Akteure. "Solange das Theater es sich zur Hauptaufgabe macht, uns eine holde Scheinwelt vorzugaukeln - so lange wird die Kunstproduktion ein Hasardbetrieb bleiben", heißt es. Dann entschließt man sich doch noch: "Wir nehmen Kenntnis von den Dingen, die die Menschen heute beschäftigen. Die letzte Form ist nicht gefunden, aber wir sind auf dem Weg!" Und dann macht man sich auf den Weg - und wie!

Ein an die Bühne gelehntes Pappschild kündigt das Stück "Weltuntergang oder: Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang" an, und schon tanzen die Schauspieler in liebevoll aus der Zeit gefallenen Kostümen von Justina Klimczyk als Himmelskörper verkleidet über die Bretter: Alicia Aumüller, die vom Schauspielhaus Zürich nach Wien gekommen ist, gibt mit güldener Krone die Sonne, die auf der Erde eine "ekelhafte Dissonanz" ortet, woraufhin sie mittels einer Notverordnung den Erdmond herbeiruft, um Auskunft zu geben. ("Zuerst kommen immer die Notverordnungen, dann finden sich schon die Theorien dazu.") Und der Mond diagnostiziert: "Die Erde ist krank. Sie hat ... wie nennt man das nur ... Sie hat Mensch!" Und so wird der in eine Alufolienkugel gesteckte, eigentlich für ein Date auf dem Weg zur Milchstraße befindliche Komet (Samouil Stoyanov) gen Erde geschickt, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Dort will der "Führer" gerade den Physiker Guck für die Entdeckung des Kometen auszeichnen, der "vom Weltjudentum, der Freimaurerei und dem Bolschewismus" entsandt worden sei. Doch als der jüdische Professor (herrlich widerständig: Sissi Reich, die aus dem Schauspielhaus Wien ans Volkstheater wechselte) andeutet, dass es sich durch den Kometen mit den "tausend Jahren" nicht ausgehen werde, schmeißt er ihn raus. Nachsatz: "Vernichten!"

Während Guck also verzweifelt versucht, eine Maschine zu entwickeln, die den Kometen ablenken kann, stellen sich die Menschen auf den Weltuntergang ein, bieten zu überhöhten Preisen neu entwickelte Waren feil, predigen Fake News und die Reichen lassen ein Raumschiff bauen, mit dem sie die Erde rechtzeitig verlassen wollen (Elon Musk lässt grüßen). Die entstehende Dynamik, die Soyfer in diesem musikalisch-revuehaften Text, der live von Kostia Rapoport am Klavier begleitet wird, vor fast 90 Jahren erschaffen hat, lässt sich problemlos auf heutige Krisen- und Katastrophenszenarien anwenden. Als hätte es bereits Soyfer so angelegt, gleitet der Abend mühelos in den zweiten Teil, in dem "Astoria" auf dem Programm steht.

Die Anziehungskraft eines fiktiven Staats

Vor geschlossenem roten Vorhang, der im Kreis über der Bühne schwebt, wird eine Tafel aufgebaut. Der Landstreicher Kilian Hupka (Tjark Bernau, der mit Gloger aus Nürnberg kam) erfindet einen Staat, den eine amerikanische Gräfin ihrem Gatten zum Geburtstag schenken will. Aumüller schlüpft herrlich überdreht in die Rolle der exaltierten Oberschicht-Tussi, die ihrem in die Jahre gekommenen Politiker-Ehemann wieder zu Macht verhelfen will. Stoyanov gibt den schrulligen Alten, der sich die Suppe beim Essen nur mehr auf das Hemd schüttet, bravourös. Bald finden sich am Tisch Vertreter der höheren Gesellschaft ein, die die Existenz des Staates Astoria, in dem weder Arbeitslosigkeit noch Kriminalität existieren, dafür aber reiche Ölvorkommen, bald nicht mehr anzweifeln und gierig um Visa bitten. Die Anzahl der Auslandsastorier steigt rasant. Das Stück gipfelt in einem herrlich sprachverdrehten Nazisprechdurchfall von Agranovski, der sich vom Dienstboten zum Staatsmann gemausert hat.

Heutiger Jugendsprech herrscht unterdessen im Zwischenspiel "Geschichtsstunde im Jahre 2035", in dem ein verzweifelter Lehrer seine Schüler über das "Neo-Mittelalter" der 1930er Jahre befragt und nur Sätze wie "Hab ich vergessen, Oida" erntet. Welche Bandbreite Jury Soyfers Schaffen in den wenigen Jahren seines Lebens entfaltet, lässt sich schließlich im letzten Teil des Abends erkennen: Starke Anklänge an das Absurde Theater dominieren das 1937 entstandene "Vineta", in dem sich ein Reisender (auch Maximilian Pulst ist neu im Ensemble) auf der in Gelblicht getauchten Bühne an einem Ort wiederfindet, an dem Geschichtsvergessenheit zur obersten Maxime geworden ist und die Menschen nicht nur stets auf ein Schiff warten, das bereits gestern abgefahren ist, sondern auch beschäftigungs- wie alterslos sind. Vehement versucht sich der Reisende gegen das eigene Vergessen zu wehren.

Großes Finale mit Botschaft

In einem großen Finale lässt Gloger noch einmal die Figuren aus allen Stücken verschmelzen und zeigt: Astoria, Vineta - alle Orte sind eins und aus dem Weltuntergang ist nichts geworden. Das letzte Pappschild erinnert an Soyfers von den Nazis beendetes Leben: Seine Rakete konnte nicht mehr abheben, heißt es darauf. Nach dem lang anhaltenden Jubel ergriff der Direktor selbst das Wort, um Ensemble und Mitarbeiter:innen auf der Bühne zu versammeln, um die Eröffnung unter Einsatz von Konfettikanonen offiziell zu machen. Und als Motto auszugeben, den "Krisen und Absurditäten der heutigen Zeit" mit einem vielfältigen Team nicht nur etwas entgegenzusetzen, sondern sie auch "gemeinsam auszuhalten". Denn: "Theater stiftet Anwesenheit, Nähe und Präsenz".

Wer sich weiter vertiefen will, kann am morgigen Sonntag an einer virtuellen Matinee der Jura Soyfer Gesellschaft teilnehmen, bei der nicht nur Gloger Rede und Antwort stehen wird, sondern auch zahlreiche Soyfer-Expertinnen und -Experten aus verschiedenen Ländern zu Wort kommen werden. Im Volkstheater geht es am Samstagabend nach zahlreichen Programmpunkten beim "Open House" mit der Uraufführung von "Pseudorama - Eine zu 99% analoge virtuelle Realität" des Regieduos Darum in Kooperation mit der Rechercheplattform Dossier weiter, am Sonntag bringt Felicitas Brucker ihre Bühnenversion des Haneke-Films "Caché" zur Uraufführung.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "Ich möchte zur Milchstraße wandern!" mit Texten von Jura Soyfer im Volkstheater. Regie: Jan Philipp Gloger. Mit Andrej Agranovski, Alicia Aumüller, Tjark Bernau, Maximilian Pulst, Sissi Reich, Samouil Stoyanov und Kostia Rapoport am Klavier. Bühne: Marie Roth, Kostüme: Justina Klimczyk. Weitere Termine: 20. und 26. September, 4., 9. und 12. Oktober. www.volkstheater.at / Online-Matinee am 14. September, 11 Uhr unter www.youtube.com/@jurasoyfergesellschaft/live )

Zusammenfassung
  • Jan Philipp Gloger eröffnete am Freitag seine erste Saison als Volkstheaterdirektor mit der Collage „Ich möchte zur Milchstraße wandern!“, die mehrere Stücke von Jura Soyfer vereint.
  • Die Inszenierung thematisiert mit Werken wie „Weltuntergang“ und „Astoria“ gesellschaftliche Krisen, Fake News und politische Absurditäten, die auch auf heutige Verhältnisse übertragen werden.
  • Im Stück „Astoria“ wird die Gründung eines fiktiven Staates als Satire auf Machtgier und gesellschaftliche Illusionen inszeniert, während „Vineta“ die Gefahren der Geschichtsvergessenheit aufzeigt.
  • Das Finale verbindet Figuren aus allen Stücken und betont die Botschaft, Krisen und Absurditäten der Gegenwart gemeinsam auszuhalten.
  • Eine Online-Matinee der Jura Soyfer Gesellschaft findet am 14. September um 11 Uhr statt, weitere Vorstellungen folgen am 20. und 26. September sowie am 4., 9. und 12. Oktober.