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Orhan Pamuk ist "kein Opfer - Ich bin ein glücklicher Autor"

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Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk liest am Donnerstagabend im Wiener Konzerthaus aus seinem Roman "Die Nächte der Pest". Am Vormittag gab er der APA (mit gebührendem Abstand) Auskunft über die außergewöhnlichen Begleitumstände des Schreibens und die unerwartete Aktualität seiner Geschichte über einen Pestausbruch im Jahr 1901 auf einer fiktiven Mittelmeerinsel. Ein Gespräch auch über Bill Gates und Peter Handke, Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan.

APA: Herr Pamuk, Sie haben "Die Nächte der Pest" bereits 2016 zu schreiben begonnen. Corona war damals für die Öffentlichkeit bestenfalls eine mexikanische Biermarke. Wie ist es Ihnen ergangen, als Ihre Geschichte unerwartet dramatische Aktualität erhielt?

Orhan Pamuk: Es gab Leute wie Bill Gates, die das vorausgesehen hatten. Es hat in der Geschichte der Menschen immer Pandemien gegeben: Cholera, Pest, Gelbfieber. Es war keineswegs eine Überraschung. Aber es hat nie zuvor Flugzeuge gegeben, mit denen innerhalb von Stunden die Viren auf der ganzen Welt verteilt wurden. Als ich mein Buch begonnen habe, haben Freunde zu mir gesagt: Wer wird das lesen? Die Pest ist ausgestorben. Dieselben haben dann nach Ausbruch der Corona-Pandemie gesagt: Da hast Du aber Glück gehabt! Ich habe aber ganz und gar kein Glück gehabt, denn meine geliebte Tante, die nur zwei Häuserblöcke von mir entfernt gewohnt hat, war unter den ersten Todesopfern in Istanbul. Ich hatte Angst. Und ich habe einen Artikel über mein Buch und die Geschichte der Pest geschrieben und darin dargelegt, dass ich schon lange an diesem Buch schreibe. Natürlich wurde ich von meinen Verlegern bestürmt: Bitte, Orhan, schreibe es zu Ende. Ich habe also das Buch, an dem ich seit dreieinhalb Jahren geschrieben habe, fertiggestellt - und eigentlich nur wenig geändert. Ich habe nur den Teil gekürzt, in dem ich die Bedingungen der Quarantäne beschrieben habe, denn plötzlich wusste nun jeder darüber Bescheid.

APA: Haben Sie sich gedacht: Oh, nun verhält sich die Gegenwart genauso wie meine Geschichte?

Pamuk: Genau. Ich hab mich schuldig gefühlt, als würde sich diese Pandemie wegen meines Buches immer weiter ausbreiten - natürlich eine psychologische Täuschung. Aber dann habe ich fieberhaft mein Buch fertiggestellt. Die Lockdowns haben mich nicht allzu sehr tangiert, denn als ein Schriftsteller habe ich mich in den letzten 48 Jahren ohnedies hauptsächlich im selbst gewählten Lockdown befunden. Aber vergessen Sie nicht, dass ich über 65 bin. Covid trifft ältere Menschen stärker als junge - im Gegensatz etwa zur Spanischen Grippe, bei der es genau umgekehrt war. Ich habe also das Beste versucht, mich zu schützen - etwa, indem ich Journalisten wie Sie gebeten habe, genügend Abstand zu halten. (lacht)

APA: Verstehen Sie, warum es solche Konflikte um Maßnahmen wie Lockdowns oder soviel Widerstand gegen Impfungen gegeben hat? Wie war das in der Türkei?

Pamuk: Das hat mich nicht wirklich überrascht. Als die ganze Welt Mitte März 2020 in Panik geriet, war ich gerade in New York. Trump hat gesagt, alles werde im April wieder vorbei sein. Als ich in die Türkei zurückgekommen bin, habe ich gesehen, dass Erdogan alle Moscheen geschlossen hatte. Nicht einmal die Islamisten haben dagegen protestiert. Vielleicht, weil es keine freie Rede in der Türkei gibt. Vielleicht aber auch, weil sie gescheiter als Trump waren.

APA: Den großen Pestausbruch im Jahr 1901 gab es wirklich. Die Mittelmeerinsel Minger ist erfunden. Wie war es beim Schreiben, historische Realität und Erfindung zu mischen?

Pamuk: Diese Mischung ist die Grundformel für historische Romane. Das galt schon für "Krieg und Frieden". Wenn Sie checken wollen, wo die Realität endet und meine Erfindung beginnt, müssen Sie googeln. Sie werden erstaunt sein, wie wenig erfunden ist. Ich habe Leser in der Türkei, die alle Details gegoogelt haben. (lacht) Schon Homer wurde zu seiner Zeit für einen Historiker gehalten. Die Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtenerfindung ist eine Angelegenheit der Moderne. Das eine wurde eine Wissenschaft, das andere eine Kunstform. Auch der Literaturnobelpreis wird manchmal an Historiker vergeben - denken Sie an Winston Churchill.

APA: "Ich komme von Homer" wurde von Peter Handke für sich in Anspruch genommen. Ihn hat der Nobelpreis eine Neuauflage des alten Streits um seine serbienfreundliche Haltung im Balkankrieg eingetragen. Elfriede Jelinek hat sich seit ihrem Nobelpreis aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Hat der Nobelpreis, den Sie 2006 erhalten haben, Ihnen mehr Glück gebracht?

Pamuk: Nach der Zuerkennung des Preises habe ich diese Frage immer wieder beantworten müssen: Dauernd läutet das Telefon, jeder will was von Ihnen - ist das nicht lästig? Ganz und gar nicht! Ich habe meinen Nobelpreis gründlich genossen. Ich bin wirklich glücklich mit dem Preis. Er bringt mir mehr Leser, mehr Überzeugung, dass ich auf der ganzen Welt gelesen werde, und damit mehr Glück. Also: Der Nobelpreis ist eine gute Sache. Ich kann ihn nur jedem empfehlen! (lacht)

APA: Haben Sie es nicht aufgrund eines Erdogan-Statements zum Nobelpreis einmal kurzfristig mit der Angst zu tun bekommen?

Pamuk: Das war so: Die Tatsache, dass Peter Handke den Nobelpreis bekam, hat viele negative Schlagzeilen in der Türkei gemacht. Ich selbst denke, er ist ein guter Autor, ich habe viele seiner Bücher gelesen und respektiere sein Werk. Ich wünschte, er hätte Milosevic nicht unterstützt, aber über seine Bücher kann ich nichts Negatives sagen. Als Erdogan auf einer Universität damals danach gefragt wurde, hat er u.a. gesagt, dass man denselben Preis auch einem türkischen Terroristen gegeben habe. Sobald ich das in den USA gehört habe, ich war damals Gastprofessor an der Columbia University, war ich beunruhigt. Ich hatte den Rückflug ein paar Tage später und war verunsichert, was ich tun sollte. Glücklicherweise hat drei Stunden später Erdogans Sprecher klargestellt, dass nicht ich gemeint gewesen war. So konnte ich beruhigt nach Hause fliegen.

APA: Die Konstruktion Ihres Romans ist etwas kompliziert...

Pamuk: Ja, die Fakten sind durch viele, viele Schichten gefiltert. Am Anfang stehen die Fakten, dann werden sie vom Ehemann seiner Frau erzählt, die niemals ihr Zimmer verlässt. Sie berichtet darüber in Briefen, die später von jemanden anderen gekauft werden. Diese Briefe bekommt dann die Ururenkelin zu bearbeiten, die eine Einführung über diese Briefsammlung schreibt, die sich wieder als Roman entpuppt, den Orhan Pamuk schreibt.

APA: Warum gehen Sie diese Umwege?

Pamuk: Ich versuche seit vielen Jahren, die Welt aus der Sicht von Frauen zu beschreiben. In "Rot ist mein Name" ist es mir teilweise gelungen. Es ist eine moralische Verpflichtung, die manche "Political Correctness" nennen mögen. Ich möchte mich mehr mit weiblichen Figuren identifizieren. Meine Vorstellung ist, eines Tages einen 500-Seiten-Roman aus der Sicht einer Erzählerin zu schreiben und die Leser glauben zu lassen, dass es nicht ich bin, der das erzählt, sondern eine Freundin von mir.

APA: Ich lese "Die Nächte der Pest" als Parabel - jedoch mehr auf politische als auf pandemische Verhältnisse. Für mich geht es um Despotismus und Nationalismus. Es von einer Staatengründung, von der Neuerfindung einer Nation, inklusive der Etablierung einer nationalen Geschichte und einer eigenen Schriftsprache. Der selbstbewusste Major Kâmil führt Minger in die Unabhängigkeit. Liegt es bei alldem nicht nahe, dabei an Mustafa Kemal Atatürk zu denken?

Pamuk: Nein, tut es nicht. Wenn Sie darauf bestehen, dass das Buch eine Allegorie ist, was ich bestreite, dann ist es eine Allegorie auf Staatenbildung nach dem Zerfall der großen Weltreiche. Es gibt viele Details, die gegen eine simple Parallele zu Atatürk sprechen. Atatürks Gegner, vor allem die Islamisten, heben immer hervor, dass er Alkohol liebte. Meine Figur rührt keinen Alkohol an und erinnert weder in seiner physischen Erscheinung noch in Details seines Leben an ihn. Aber nachdem man in der Türkei keinen anderen Staatengründer kennt, redet man nur über ihn. In den Zeitungen wurde so viel darüber geschrieben, dass mich der Staatsanwalt vorgeladen hat. Ich sagte ihm: Zeigen Sie mir die betreffenden Seiten? Das konnte er nicht. Meine Figur ist nicht Kemal Atatürk. Aber die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.

APA: Sie waren bereits im Zusammenhang mit dem Völkermord an Armeniern wegen "Herabsetzung des Türkentums" angeklagt. Befürchten Sie, dass der neue Vorwurf "Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne" 2023 zum 100. Jahrestag der Republikgründung von Erdogan als Exempel verwendet werden könnte?

Pamuk: Ich habe einen guten Anwalt, der bereits Mitglieder der sozialistischen und kommunistischen Partei verteidigt hat und zehn Jahre älter ist als ich. Er ist ein weiser Mann. Er sagt mir: Herr Pamuk, sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Ich vertraue ihm. Ich bin nicht beunruhigt. Ich bin kein Opfer. Ich bin ein glücklicher Autor. Das ist meine Botschaft an die österreichischen Leserinnen und Leser.

APA: Wie ist die Lage in der Türkei derzeit? Jüngst gab es Prozesse gegen den Kulturförderer Osman Kavala oder die Journalistin Sedef Kabas. Hat man dennoch Hoffnung auf Veränderung oder herrscht Resignation?

Pamuk: Es gibt viele tapfere Journalistinnen und Journalisten, die für das, was sie schreiben, ins Gefängnis gehen. Ich habe großen Respekt vor ihnen. Gelegentlich passiert es mir, dass ich sie auf der Straße treffe, wenn sie gerade entlassen wurden, und sie sagen mir: Im Gefängnis hatte ich endlich Zeit, Deine Romane zu lesen! Es gibt keine freie Rede mehr in der Türkei. Die gute Nachricht ist: In den Umfragen stürzen Erdogans Werte ab, weil die türkische Wirtschaft in einem so schlechten Zustand ist.

APA: Hätten Sie für möglich gehalten, dass im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Krieg wie der Ukraine-Krieg losbrechen kann? Was bringt die Zukunft?

Pamuk: Ich kann das leider gar nicht vorhersagen. Wenn man wollte, könnte man den Krieg in fünf Minuten beenden. Ich kann Ihnen auf Ihre Frage nur eine leicht ironische Antwort geben: Vergessen Sie bitte nicht, dass ich historische Romane schreibe. Wenn Sie etwas über die Zukunft erfahren wollen, fragen Sie bitte einen Science-Fiction-Autor.

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest", aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Hanser Verlag, 696 Seiten, 30,90 Euro, ISBN: 978-3-446-27084-8; Lesung heute, 19.30 Uhr, im Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal)

ribbon Zusammenfassung
  • Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk liest am Donnerstagabend im Wiener Konzerthaus aus seinem Roman "Die Nächte der Pest".
  • Am Vormittag gab er der APA Auskunft über die außergewöhnlichen Begleitumstände des Schreibens und die unerwartete Aktualität seiner Geschichte über einen Pestausbruch im Jahr 1901 auf einer fiktiven Mittelmeerinsel.
  • Ein Gespräch auch über Bill Gates und Peter Handke, Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan.