New Yorker Opernchef Gelb steht für "künstlerische Freiheit"
APA: Nächstes Jahr feiern Sie Ihr 20-jähriges Jubiläum an der Metropolitan Opera, richtig?
Peter Gelb: In dieser Position, ja, aber ich habe verschiedene Abschnitte meines Lebens an der Met verbracht. Als Teenager habe ich als Platzanweiser hier gearbeitet, im Familienbereich mit Stehplätzen. Damals war die Oper viel mehr im kulturellen Mainstream verankert als heute. Es gibt immer noch sehr begeisterte Opernfans, aber damals waren sie besonders auffällig. Meine Aufgabe als Platzanweiser war es, dafür zu sorgen, dass die Stehplatzbesucher ganz oben im Haus sich nicht in die Haare kriegten.
APA: Das Publikum der Met scheint sehr emotional und enthusiastisch zu sein, während mir ein New Yorker Musiker erzählte, dass das Publikum in Wien sehr kritisch sein kann.
Gelb: Vielleicht. Aber das Publikum ist heute auch ganz anders. Als ich vor 20 Jahren Generaldirektor der Met wurde, lag das Durchschnittsalter des Publikums bei Ende 60. Heute liegt es bei knapp 40. Das Publikum ist viel jünger, aber auch viel weniger sachkundig, weshalb es so wichtig ist, dass wir auf höchstem Niveau arbeiten. Das ist wichtiger denn je, denn es ist unsere Chance, neue Zuschauer davon zu überzeugen wiederzukommen. Und wissen Sie, es kommen weniger Touristen nach Amerika.
APA: Wegen der US-Politik?
Gelb: Weil die Leute Angst haben, hierher zu kommen.
"Alles an diesem Opernhaus ist eine Herausforderung"
APA: Ist das eine große Herausforderung?
Gelb: Alles an diesem Opernhaus ist eine Herausforderung. (lacht) Und das ist keine Frage der Politik, sondern der Kulturlandschaft, in der gemeinnützige Theater- und Tanzkompanien finanziell nur durch Spenden aus der Privatwirtschaft überleben. Das liegt in der Natur des US-amerikanischen Systems.
APA: Es gibt keine staatlichen Fördermittel?
Gelb: Nein, es gibt praktisch keine staatlichen Fördermittel. Das Budget der Met beträgt über 300 Millionen US-Dollar pro Jahr, und das gesamte Jahresbudget der National Endowment for the Arts, der staatlichen Behörde, die künstlerische Organisationen finanziell unterstützt, beträgt etwa die Hälfte unseres Budgets.
Mit neuen Opern und Met im Kino "nicht in Vergangenheit verharren"
APA: Gibt Ihnen das mehr künstlerische Freiheit?
Gelb: Unabhängig davon, ob wir Geld erhalten oder nicht, würden wir künstlerisch immer noch als unabhängiges Haus agieren. Ich bin der Meinung, dass eine Kunstform nur dann eine Zukunft hat, wenn sie sich kreativ weiterentwickelt. Man kann nicht in der Vergangenheit verharren. In dieser Saison präsentieren wir dem Publikum drei neue Opern. Wir haben mit "The Amazing Adventures of Kavalier & Clay" eröffnet. Außerdem zeigen wir die neue Produktion einer Oper von Gabriela Lena Frank mit dem Titel "El Último Sueño de Frida y Diego", eine spanischsprachige Oper über Frida Kahlo und Diego Rivera.
Eines meiner Ziele ist es, neue Werke oder Komponisten zu finden, die nicht nur den Intellekt des Publikums, sondern auch das Herz ansprechen. Das ist eine Herausforderung, denn aus irgendeinem Grund entscheidet in der gesamten Opernwelt die Opernpolizei darüber, was gut ist und was nicht. Kritiker und Akademiker schätzen Opern, die auf Erfolg ausgerichtet sind, nicht. Das ist eigentlich eine Perversion dessen, was Oper ursprünglich war. Verdi, Puccini und Mozart wollten alle populären Erfolg. Aber heute wird ein Komponist, der melodische Musik schreibt, von Kritikern mit Argwohn betrachtet.
APA: Sie haben begonnen, die Vorstellungen live in Kinos weltweit zu übertragen, um mehr Menschen zu erreichen. Ist das auch etwas, das Sie als Vermächtnis hinterlassen möchten?
Gelb: Darauf bin ich sehr stolz. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ein Opernhaus seine Zuschauerzahl erhöhen konnte, ohne ein größeres Theater zu bauen. Es gibt sogar ein Kino innerhalb des Polarkreises in Tromsø, Norwegen, an das wir das Signal senden. Wir sind in 11 verschiedenen Zeitzonen live zu sehen.
Engagement für die Ukraine und Kulturdiplomatie
APA: Sie äußern sich sehr offen zum Krieg in der Ukraine. Als Reaktion auf die russische Invasion haben Sie 2022 in der Met ein Konzert für das vom Krieg heimgesuchte Land veranstaltet. Ihre Frau Keri-Lynn Wilson ist Dirigentin des Ukrainian Freedom Orchestra. Warum ist Ihnen die Ukraine so wichtig?
Gelb: Ich habe den größten Teil meines Berufslebens damit verbracht, kulturelle Verbindungen zu knüpfen. Als ich beim Boston Symphony Orchestra war, war ich für die Organisation der Reise nach China am Ende der Kulturrevolution verantwortlich. Ich brachte Vladimir Horowitz, den ich managte, 1985 nach Moskau.
Kulturdiplomatie soll das Verständnis zwischen den Menschen fördern und über politische Auseinandersetzungen hinausgehen. Das gilt auch für Länder mit repressiven Regimes, zu denen die Sowjetunion zweifellos gehörte - oder Russland unter Putin. Ich hielt es weiterhin für wichtig, dass ein kultureller Austausch stattfand, und in meiner Funktion als Leiter der Met schloss ich mit dem Bolschoi-Theater eine Vereinbarung über Koproduktionen. Ich war sogar zwei Tage vor der Invasion 2022 in Moskau. Als ich nach New York zurückkam, habe ich davon erfahren, dass der Krieg begonnen hatte. In diesem Moment war mir klar, dass aus dem Kalten Krieg nun ein echter Krieg geworden war, und als ich sah, wie Russland dieses Land auf so brutale und ungerechte Weise überfiel, wurde mir klar, dass ein kultureller Austausch nicht mehr angemessen war.
APA: War das eine schwierige Entscheidung?
Gelb: Es war eine sehr klare Entscheidung. Sie war schmerzhaft, aber es war nicht schwer, sie zu treffen. Ich habe sofort alle unsere Beziehungen zu Russland in Bezug auf das Bolschoi-Theater und alle Künstler, die eng mit Putin verbunden sind, abgebrochen.
Anna Netrebko verklagt die Met
APA: Anna Netrebko ist eine dieser Künstlerinnen. Sie haben die Zusammenarbeit mit ihr beendet. Einige europäische Opernhäuser haben die Sängerin wieder willkommen geheißen. Bereuen Sie Ihre Entscheidung?
Gelb: Netrebko verklagt die Met und mich persönlich. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich meine Entscheidung keineswegs bereue. Mehr kann ich aufgrund des laufenden Gerichtsverfahrens nicht sagen.
APA: Glauben Sie, dass alle Kunst politisch ist?
Gelb: Ich glaube nicht, aber ich denke, dass insbesondere in der heutigen Zeit mit dem Aufstieg des Totalitarismus manche Botschaften politischer erscheinen als früher. Normalerweise halten wir keine Reden, aber als ich am Eröffnungsabend dieser Saison dem Publikum sagte, dass die Met für künstlerische Freiheit steht, stand das gesamte Publikum auf und applaudierte mir. Vor einem Jahr wäre es noch undenkbar gewesen, dass ich so etwas überhaupt sagen muss. Das zeigt einfach, in welchen Zeiten wir heute leben.
APA: Es scheint, als würde sich in New York City derzeit eine Kultur der Angst entwickeln. Die Menschen sprechen nicht gerne über Trump, geschweige denn, dass sie seinen Namen in den Mund nehmen.
Gelb: Absolut. Aber wissen Sie, andererseits hat New York City gerade einen sozialistischen Bürgermeister gewählt. Der Big Apple ist nicht wie im Rest der Vereinigten Staaten von Amerika. Das war er noch nie.
"Ich muss Hoffnung haben"
APA: Sind Sie hoffnungsvoll oder sind Sie zynisch geworden? Kann Kunst etwas bewirken?
Gelb: Wenn ich zynisch wäre, könnte ich dieses Unternehmen nicht leiten. (lacht) Ich versuche, realistisch zu sein, aber ich muss Hoffnung haben. Wenn überhaupt, dann ist die Rolle der Met in einer zivilisierten Welt heute wichtiger denn je, denn seit den alten Griechen sind die Künste Eckpfeiler einer zivilisierten Welt.
APA: Kunst hilft uns, die Welt zu verstehen ...
Gelb: Deshalb haben wir zum Beispiel die Oper "The Mothers of Kherson" in Auftrag gegeben, die auf wahren Begebenheiten beruht, aber mit fiktiven Figuren über die mutigen Mütter erzählt, die versuchen, ihre von den Russen entführten Kinder zu retten. Wir haben einen jungen ukrainischen Komponisten namens Maxim Kolomiiets beauftragt, und das englischsprachige Libretto stammt vom amerikanischen Dramatiker George Brant. Die Oper wird in Warschau an der Polnischen Nationaloper uraufgeführt.
APA: Yannick Nézet-Séguin, der Musikdirektor der Met, wird das kommende Neujahrskonzert in Wien dirigieren ...
Gelb: Er freut sich sehr darauf. Und natürlich ist es für einen Dirigenten eine große Ehre, für diese Konzerte ausgewählt zu werden. Schließlich ist Wien für die klassische Musik das, was Hollywood für den Film ist.
(Das Gespräch führte Marietta Steinhart/APA)
Zusammenfassung
- Peter Gelb ist seit fast 20 Jahren Intendant der Metropolitan Opera in New York und sieht die Rolle des Hauses als wichtiger denn je für die künstlerische Freiheit.
- Das Publikum der Met ist heute deutlich jünger als früher, das Durchschnittsalter sank von Ende 60 auf knapp 40 Jahre.
- Die Met finanziert sich mit einem Jahresbudget von über 300 Millionen US-Dollar fast ausschließlich durch private Spenden, da staatliche Förderungen kaum existieren.
- Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg hat die Met seit 2022 alle Beziehungen zu russischen Institutionen und Künstlern mit Nähe zu Putin abgebrochen.
- Mit Initiativen wie neuen Opernproduktionen und weltweiten Live-Übertragungen in Kinos setzt die Met gezielt auf Innovation und internationale Reichweite.
