Manizha Bakhtari: "Afghanistan steht auf niemandes Agenda"
APA: Frau Bakhtari, wie ist es, als Frau unter den Taliban in Afghanistan aufzuwachsen?
Manizha Bakhtari: Die Situation für Frauen in Afghanistan ist extrem schwierig, weil die Taliban ein System der Geschlechterapartheid eingeführt haben. Sie haben allen Mädchen den Zugang zu weiterführenden Schulen und Hochschulen verboten. Sie haben Frauen von der Arbeit in Büros und in staatlichen und nicht staatlichen Organisationen ausgeschlossen. Frauen können sich nicht frei von einem Ort zum anderen bewegen. Sie dürfen nicht in Parks gehen, und sie dürfen an keiner Art von gesellschaftlichen Zusammenkünften teilnehmen. Es hat auch Auswirkungen auf die späteren Generationen, denn Bildung ist der Schlüssel, um alle Türen zu öffnen.
Während der demokratischen Periode in Afghanistan konnten Mädchen zur Schule gehen, Frauen konnten sich frei bewegen. Unser Parlament bestand zu mindestens 39 Prozent aus Frauen. Es war sozusagen eine "goldene Zeit" für Afghanistan. Heute sind Frauen jeden Tag Angst und Gewalt ausgesetzt, und trotz allem leisten viele Widerstand. Sie protestieren und erheben ihre Stimme in den sozialen Medien. Außerdem gibt es Untergrundschulen und Onlinekurse für junge Frauen, die sich gegenseitig alles beibringen wollen, was sie wissen. Das ist ein Symbol des Widerstands unter den jungen Frauen.
APA: Im Film sehen wir Bilder von diesen protestierenden Frauen. Wünschen Sie sich manchmal, Sie könnten Seite an Seite mit ihnen kämpfen?
Bakhtari: Ich habe gemischte Gefühle. Ich wünschte, ich wäre dort und könnte mit ihnen in Afghanistan kämpfen, aber es ist extrem schwierig, dort zu sein. Im Moment kann ich sagen, was ich will, weil ich in einem Land lebe, in dem Meinungs- und Bewegungsfreiheit großgeschrieben werden. Wenn ich nach Afghanistan reisen würde, würden sie mich natürlich verhaften, weil ich mich in den letzten vier Jahren offen kritisch geäußert habe.
APA: Am 7. Jänner 2021 wurden Sie zur afghanischen Botschafterin in Wien ernannt. Am 15. August des gleichen Jahres übernahmen die Taliban wieder die Macht. Im Film werden Sie in einem Brief als Botschafterin entlassen, und Sie antworten: "Von Ihnen nehme ich keine Befehle entgegen". Seitdem kämpfen Sie von Wien aus für das afghanische Volk, und das ist ziemlich gefährlich, oder? Fühlen Sie sich sicher?
Bakhtari: Die Taliban haben mich entlassen, weil ich eine Frau bin. Ich war die einzige verbliebene Botschafterin Afghanistans. Es ist schwierig für mich, in Wien zu arbeiten, ohne eine Regierung in Afghanistan zu haben. Ich bin auf mich allein gestellt. Aber ich fühle mich sicher, weil Österreich ein sicheres Land ist. Meine Sicherheit ist nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern auch von politischer Bedeutung.
APA: Afghanistan macht keine Schlagzeilen mehr. Es gibt zu viele Konflikte auf der Welt. Haben Sie das Gefühl, dass den Problemen in Ihrer Heimat nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird?
Bakhtari: Die Debatte über Afghanistan ebbt langsam ab, obwohl Tausende von Frauen im Exil sich für die Rechte der Frauen in Afghanistan einsetzen. Dennoch gibt es Menschen auf der ganzen Welt, es gibt Organisationen, Institutionen und sogar einige Regierungen, die zuhören. Die Taliban nicht als legitime Regierung Afghanistans anzuerkennen, ist wichtig, aber nicht genug. Wir müssen mehr tun. Aber leider kann die Welt nur eine Krise auf einmal bewältigen. Afghanistan steht auf niemandes Agenda, und viele argumentieren, dass es derzeit "sicher" ist und wir "Frieden" haben, aber das ist ein Frieden ohne Gerechtigkeit. Diese Art von Frieden ist Unterdrückung.
APA: Es gibt eine Szene in der Dokumentation, in der Sie und Ihr Ehemann darüber sprechen, ob Sie jemals nach Afghanistan zurückkehren werden. Sie sind optimistischer als er. Glauben Sie, dass Sie eines Tages zurückkehren werden?
Bakhtari: Ich habe immer noch die Hoffnung, eines Tages in mein Land zurückkehren zu können, aber das ist eine Frage der Zeit. Ich weiß nicht wann, aber ja, natürlich. Denn Unterdrückung und Autokratie haben keine lange Lebensdauer. Eines Tages wird alles zusammenbrechen. Da bin ich mir ziemlich sicher.
APA: Glauben Sie, dass es eine Rolle spielt, dass Russland im Juli als erstes Land der Welt die Taliban als legitime Regierung anerkannt hat? Werden andere Länder folgen?
Bakhtari: Das gibt natürlich Anlass zur Sorge und spiegelt eine wachsende geopolitische Bewegung in Richtung der Taliban wider. Auch China, der Iran und Pakistan haben ihr Engagement gegenüber den Taliban deutlich verstärkt. Es gibt viele Nationen, die mit den Taliban zusammenarbeiten. Aber wir, die wir für Afghanistan kämpfen, erkennen die Taliban nicht an. Und ich glaube, dass der Wille des afghanischen Volkes hier das wichtigste Element ist.
APA: Es gibt auch eine Szene, in der Ihr Mann die Geschichte eines Vogels erzählt, der mit Wasser hin- und herfliegt, und sich abmüht, um das Feuer in einem brennenden Wald zu löschen. Sie sind dieser Vogel?
Bakhtari: Ja, er meinte mich, ich bin der Vogel. Das ist eine Geschichte, die ich ihm erzählt habe, als er sich wegen meines Aktivismus Sorgen machte. Mein Einfluss ist begrenzt. Ich fühle mich wie ein kleiner Vogel, aber ich tue, was ich kann, weil ich nicht schweigen kann. Ich habe die Macht der Meinungsfreiheit, und wir müssen das Schweigen brechen.
(Das Gespräch führte Marietta Steinhart/APA)
Zusammenfassung
- Die afghanische Botschafterin in Wien, Manizha Bakhtari, wurde nach der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 entlassen, verweigert aber die Anerkennung dieser Entscheidung.
- Bakhtari berichtet, dass die Taliban ein System der Geschlechterapartheid eingeführt haben, wodurch Mädchen und Frauen von Bildung, Arbeit und gesellschaftlichem Leben ausgeschlossen sind.
- Während der demokratischen Periode lag der Frauenanteil im afghanischen Parlament bei mindestens 39 Prozent, heute leisten Frauen Widerstand durch Proteste, Untergrundschulen und Onlinekurse.
- Russland hat im Juli als erstes Land die Taliban-Regierung anerkannt, und auch China, Iran und Pakistan verstärken ihre Beziehungen zu den Taliban.
- Bakhtari kritisiert, dass Afghanistan international kaum noch Beachtung findet, und spricht von einem "Frieden ohne Gerechtigkeit" unter den Taliban.