APA/Daphné Bengoa

Kunsthistorikerin: "Es gibt keine Neutralität des Depots"

0

Der Umgang europäischer Museen mit ihrer Kolonialgeschichte ist spätestens seit der Rückgabe von Benin-Bronzen aus Frankreich und Deutschland ein breit diskutiertes Thema. In Österreich wurde ein Gremium eingerichtet, das die Zukunft der in Besitz von Bundesmuseen befindlichen kolonialen Objekte bestimmen soll. Eine, die sich mit dem Thema besonders gut auskennt, ist die Kunsthistorikerin Noémie Etienne, Professorin für Cultural Heritage an der Universität Wien.

Die 41-Jährige Schweizerin und Französin hat ihre Professur Anfang des Jahres 2023 übernommen, nachdem sie zuvor an den Universitäten Genf, Paris, New York, Bielefeld und Bern sowie auch am Getty Research Institute in Los Angeles tätig war. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt "Global Conservation", das jüngst mit einem mit 2 Mio. Euro dotierten Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats ausgezeichnet wurde, beschäftigt sie sich mit Konservierungspraktiken auf unterschiedlichen Kontinenten. Im APA-Interview erzählt sie, warum die europäische Art der Konservierung für Objekte nicht immer die beste Lösung ist, wie Museen in unterschiedlichen Ländern mit der Dekolonialisierung ihrer Sammlungen umgehen und warum es sinnvoll ist, die Depots zu öffnen.

In das Feld von Cultural Heritage - also Kulturerbe - fallen laut Etienne unterschiedlichste Bereiche von Gebäuden über Landschaften bis hin zu kulturellen Praktiken wie Tänze oder Kaffeekultur. "Was sie alle gemeinsam haben, ist der Prozess, den sie durchlaufen, wenn man sich die Frage stellt: Was macht ein Kulturgut - oder auch nur ein Gut - überhaupt zum Kulturerbe?" Diese Prozesse, die Objekte oder Rituale zum Kulturgut werden lassen, untersucht Etienne in ihrer Forschung.

Ein besonderer Forschungsschwerpunkt von Noémie Etienne liegt auf dem Museumsdepot, wo sich weit mehr Objekte finden als in den Ausstellungsflächen. Im Kontext von Dekolonialisierung und Restitution sei die Diskussion viel zu sehr auf Ausstellungen und Ausstellungsobjekte fokussiert und viel zu wenig auf die Depots. "Für mich ist das aber viel interessanter. 99 Prozent der Sammlungen befinden sich in den Depots - und man kann nicht alles restituieren." Also stelle sie sich die Frage, was Depots auch in Hinblick auf das Thema Konservierung zur Diskussion um Dekolonialisierung beitragen können.

So sei es besonders traurig, dass die meisten Objekte nie das Tageslicht erblicken, sondern ihr Dasein verpackt in Dunkelheit fristen. Das sei zwar aus der physischen Komponente der Konservierung gut, da die Objekte so etwa nicht in Kontakt mit Insekten kommen, andererseits aber auch problematisch, was das Überleben des Objekts im übertragenen Sinn betrifft. Eigentlich sind viele Objekte ursprünglich dazu gemacht worden, um mit ihnen immaterielle Performanzen durchzuführen. Das sei im Depot meist nicht möglich. "Das Depot ist daher ein politischer Ort", ist Etienne überzeugt. "Es gibt keine Neutralität des Depots."

Die Praxis, Objekte, die im Zuge der Kolonisierung in europäischen Museen landeten, für die Nachkommen wegzusperren, sieht sie sehr kritisch. Etienne wünscht sich ein Umdenken in den Museen, über neue Möglichkeiten der Vermittlung auch in den Depots - und nicht nur in den Ausstellungen - nachzudenken. "Das ist natürlich schwierig, weil wir unseren bisherigen Umgang gewohnt sind und er hat bisher auch gut funktioniert." Vermehrt - vor allem in den USA oder Australien, wo der Druck der indigenen Bevölkerung stärker sei als etwa in Europa - hätten sich Museen inzwischen mit der Politik des Depots auseinandergesetzt und würden an Lösungen arbeiten, um mehr Gerechtigkeit zu erreichen.

So hätten manche Museen etwa eigene Räume, in denen Objekte von den Gemeinschaften der Nachfahren in die Hand genommen werden können oder man mit ihnen tanzen oder Rituale durchführen kann. Auch die Verwendung von toxischen Produkten zur Konservierung werde reduziert. Sogar Feuer könne an manchen Orten gemacht werden. "Damit geht zwar ein Risiko einher, aber die indigenen Leute sagen, die eigentliche Zerstörung ist das Depot selbst", so Etienne, die als Vorbild etwa das National Museum of the American Indian in den USA nennt. Andere Museen - vor allem in Europa - seien noch nicht so weit: "Die Ideologie des Depots ist sehr stark, obwohl man glaubt, es ist nur ein Raum. Nein, das ist er nicht. Man muss das verstehen und man muss das ändern wollen."

Wie andere Länder mit dem Thema Konservierung umgehen, erforscht sie im Rahmen von "Global Conservation". An dem Forschungsprojekt, das auf fünf Jahre angelegt ist, arbeitet sie mit Konservatorinnen und Konservatoren sowie Aktivistinnen und Aktivisten aus unterschiedlichen Kontinenten zusammen. So herrsche allgemein die Vorstellung, dass es sich beim Thema der Konservierung um eine Wissenschaft aus Europa vom Anfang des 20. Jahrhunderts handelt. Dabei gebe es viele Arten und Traditionen von Konservierung außerhalb Europas, die interessant seien.

"Es gibt verschiedene Erwartungen im Sinne von Konservierung. Ich kenne Indigene aus den USA, die etwa erwarten, Essen zu den Objekte bringen zu können oder das Objekt an die frische Luft zu bringen. Sie lehnen die westliche Art der Konservierung ab." Im Zuge ihrer Forschung will sie unterschiedliche Praktiken dokumentieren und besser verstehen. Im Rahmen des Projekts sind Konferenzen, Workshops, eine Publikation und eine Ausstellung geplant. Ein erklärtes Ziel ist es auch, ein Wörterbuch zu erstellen, in dem sich unterschiedliche Definitionen von Begriffen wie Konservierung, Zeit oder Papier finden. Etienne schwebt ein multiperspektivisches Nachschlagewerk vor, das verschiedene Definitionen aus unterschiedlichen Kulturkreisen bietet. Schließlich gebe es auf der ganzen Welt Konservatorinnen und Konservatoren, die neugierig sind und sich weiterbilden wollen, aber vielleicht nicht die entsprechenden Kontakte haben.

Die oft medial groß ausgetragene Rückgabe von Objekten sieht sie auch kritisch: "Ich frage mich immer, welche Interessen dahinterstecken, etwa zuletzt in Frankreich. Es war kein Zufall, dass Emmanuel Macron plötzlich diese Restitution machen wollte an einen Kontinent, bei dem das politische und wirtschaftliche Interesse Frankreichs sicher über dem kulturellen liegt", so Etienne. "Man muss sich auch fragen: Warum macht man das? Wer profitiert davon?" Und so hofft sie, dass auch heimische Museen nicht nur in der Kategorie von Restitution denken, sondern auch das Depot in den Blick nehmen. Denn, Noémie Etienne betont es ein weiteres Mal: "Das Depot ist nicht neutral!"

(S E R V I C E - Noémie Etienne ist auch im APA Science-Podcast "Nerds mit Auftrag" zu Gast: https://science.apa.at/podcast/)

ribbon Zusammenfassung
  • Der Umgang europäischer Museen mit ihrer Kolonialgeschichte ist spätestens seit der Rückgabe von Benin-Bronzen aus Frankreich und Deutschland ein breit diskutiertes Thema.
  • Eine, die sich mit dem Thema besonders gut auskennt, ist die Kunsthistorikerin Noémie Etienne, Professorin für Cultural Heritage an der Universität Wien.
  • "Das Depot ist daher ein politischer Ort", ist Etienne überzeugt.