"Emily - No Prisoner Be" bei Bregenzer Festspielen gefeiert
Mit einem Leben in Zurückgezogenheit rebellierte Emily Dickinson (1830-1886) gegen gesellschaftliche Konventionen ihrer Zeit. Die finanziell abgesicherte Tochter eines Rechtsanwalts und Politikers in Massachusetts nahm sich die Freiheit, nur ein paar Personen über Korrespondenzen Anteil an ihrem Schaffen zu gewähren und einen Großteil ihrer Gedichte für sich zu behalten. Die Literaturwissenschaft geht heute davon aus, dass der Dichterin der provokative Inhalt ihrer Lyrik bewusst war. Die erste wissenschaftlich fundierte Gesamtausgabe erschien erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile gibt es mehrere Filme über das Leben von Emily Dickinson sowie zahlreiche Vertonungen einzelner Gedichte. Dass die Zahl solcher Kompositionen in die Tausende geht, hat Kevin Puts, wie er selbst vor dem Publikum der Uraufführung betonte, nicht verunsichert, denn die Gedichtzeile "They shut me up in Prose" (Sie schließen mich in Prosa ein) habe ihn nicht mehr losgelassen.
Die Kooperation mit dem mit einem Grammy bedachten Streichtrio Time for Three, für das Puts bereits das Werk "Contact" komponierte, war gesetzt, mit der vielfach ausgezeichneten Mezzosopranistin Joyce DiDonato hatte der Pulitzer-Preisträger für die Uraufführung seiner Oper "The Hours" zusammengearbeitet, in der sie die Rolle der Virginia Woolf übernahm. Aus den rund 1.700 gesicherten Gedichten von Emily Dickinson wählte Kevin Puts 24 aus, die Einblick in ihre Lyrik gewähren und dabei als eines der wesentlichen Themen die Selbstermächtigung erfahrbar machen. "Und wie ein Stern so leicht schaut er (ein Vogel) herab auf sein Gefängnis und lacht - ich tu's ihm gleich", heißt es weiter in "They shut me up in Prose". Ihre Dichtung, wie so oft zu lesen, als introspektiv zu bezeichnen, greift zu kurz. "Die Seele wählt sich die Gesellschaft selbst und schließt das Tor, stellt ihrer göttlichen Majorität niemand mehr vor" heißt es da, oder: "Ich wohne in der Möglichkeit und nicht im Prosahaus. Sie ist an Fenstern reich - hat Türen übergroß."
Spätestens dann, wenn ein Gedicht, von der Hoffnung handelt, die "als Federding in der Seele hockt", steht fest, dass es in dieser Produktion nicht darum geht, musikalische Entsprechungen für die einzelnen Themen zu finden. Kevin Puts zeichnete einen Bogen, schuf ein Bild, in dem die Stimme von Joyce DiDonato, der Klang der Violinen, der Bratsche und des Kontrabass ineinander verwoben waren und überließ den Hörern die Deutungshoheit. Das entspricht auch dem demokratischen Prozess, in dem ein Werk entstanden ist, in dem Puts - frei von Eklektizismus - nicht nur seine verschiedenen Stile vereinte und einmal geschickt den Barockkomponisten Michael Praetorius durchhören ließ, sondern auch das beeindruckende Crossover-Repertoire von Time for Three und die Geschmeidigkeit des Ausdrucks von Joyce DiDonato klug nutzte.
Zeitgenössische Musik bleibt im Festspielprogramm
Regisseur und Ausstatter Andrew Staples brauchte auf der Bregenzer Werkstattbühne nicht mehr als Lichtstimmungen und ein Podium, auf dem offenbar gerade ein alter Schreibtisch enthüllt wurde. Er lenkte die Konzentration auf die Musik und die Kraft von Joyce DiDonato sowie Nicolas Kendall, Charles Yang und Ranaan Meyer, die ihre Instrumente vom äußerst sanften Ton bis zum Shredding und Pizzicato bestens forderten und auch als Backgroundsänger hohes Niveau bekundeten. Ein weißes Kleid, wie es Emily Dickinson nur noch trug, war der einzige optische Verweis auf die Biografie. Mehr wäre nur ablenkend, hat man doch den geschmeidigen Mezzosopran und die Ausdrucksfähigkeit von Joyce DiDonato. Das sollte reichen - und es reicht. Zum Finale die Gedichtzeile "No Prisoner be" (Keiner sei in Haft) zum politischen Statement werden zu lassen, in den das jubelnde Publikum einstimmte, wirkte in der herausfordernden Gegenwart nicht aufgesetzt.
Zeitgenössische Musik, die Festspielintendantin Lilli Paasikivi in ihrer ersten Saison in Bregenz zumindest berücksichtigte, soll in Zukunft auch in ihrer speziellen Form zum Programm gehören. Im Gespräch mit der APA versicherte die Intendantin, dass sie weitere Uraufführungen plant: "Es wird dieses Gegenlicht zur romantischen Oper auf dem See geben."
(Von Christa Dietrich/APA)
(S E R V I C E - "Emily - No Prisoner Be" von Kevin Puts; Inszenierung, Bühne, Licht, Klangregie: Andrew Staples. Mit Joyce DiDonato und Time for Three (Nicolas Kendall, Charles Yang, Ranaan Meyer). Weitere Aufführung auf der Bregenzer Werkstattbühne am 16. August: www.bregenzerfestspiele.com)
Zusammenfassung
- Die Musiktheaterproduktion "Emily - No Prisoner Be" feierte am Donnerstagabend bei den Bregenzer Festspielen ihre Uraufführung und wurde mit frenetischem Applaus bedacht.
- Komponist Kevin Puts, Mezzosopranistin Joyce DiDonato und das Grammy-gekrönte Streichtrio Time for Three präsentierten gemeinsam eine Vertonung von 24 ausgewählten Gedichten aus dem rund 1.700 Werke umfassenden Oeuvre von Emily Dickinson.
- Die Inszenierung von Andrew Staples setzte auf minimalistische Mittel und konzentrierte sich auf die musikalische und stimmliche Ausdruckskraft der Künstler, wobei ein weißes Kleid als einziger biografischer Verweis diente.
- Das Finale mit der Gedichtzeile "No Prisoner be" wurde als politisches Statement verstanden und vom begeisterten Publikum aufgenommen.
- Festspielintendantin Lilli Paasikivi plant, auch künftig zeitgenössische Musik und weitere Uraufführungen im Programm der Bregenzer Festspiele zu verankern.