APA/Herwig G. Hoeller

Autor Zhadan sieht Epochenbruch in ukrainischer Literatur

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Der ukrainische Starautor, Rocksänger und Intellektuelle Serhij Zhadan sieht angesichts des Kriegs riesige Herausforderungen für das Kulturschaffen der Ukraine und rechnet mit einer neuen ukrainischen Literatur, die sich deutlich von jener seit 2014 unterscheiden wird. Dies erklärte er am Donnerstag bei einem gut besuchten Treffen mit Landsleuten und Fans in Wien, das im Rahmen des Kulturfestivals "UStream Fest" und der Bildungsinitiative Free People Education Hub stattfand.

"Als der große Krieg begann, wurde klar, dass jetzt eine andere Literatur, eine andere Art zu schreiben, eine andere Sprache beginnt", sagte Zhadan. Selbst wenn man zuvor über Krieg, Tod und Getötete schrieb, habe dies nicht jene emotionale Aufladung und nicht jenes Maß an Verletztheit gehabt, die wahrscheinlich bei allen Ukrainerinnen und Ukrainer nach dem 24. Februar 2022 und dem russischen Überfall auf die Ukraine ausgebrochen seien, erklärte er. Der 48-jährige Charkiwer gilt als einer der wichtigsten literarischen Stimmen der zeitgenössischen Ukraine und war 2022 mit Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden.

Wie dieses Neue in der Literatur und auch in der ukrainischen Kunst insgesamt aussehen werde, vermochte er jedoch nicht zu konkretisieren. Man könnte zwar behaupten, dass das ukrainische Kulturschaffen seit Beginn des Krieges verantwortungsbewusster, tiefgehender und stärker patriotisch ausgerichtet sei, doch dies seien nur leere Phrasen. "Die Verletzungen sind derart stark, dass wir uns selbst nicht objektiv beurteilen können", begründete Zhadan. Er erklärte, dass noch nicht Zeit für Soziologie, Politologie oder allgemeinen Analysen sei. Die ukrainische Gesellschaft verglich er dabei mit einer Person nach einem schweren Armbruch. Obwohl die Knochen wieder zusammenwüchsen, bleibe das alles sehr schmerzhaft, die Hand funktioniere nicht so wie früher, und die Person befinde in einem Zustand, der sich zudem täglich verändere.

Obwohl in Bezug auf den Krieg Konsens in vielen Grundsatzfragen herrsche, würden jedoch gleichzeitig in der Gesellschaft "Mauern des Nichtverstehens und der Entfremdung" errichtet, die es in dieser Form früher nicht gegeben habe, beklagte der Literat. Er sah in diesem Zusammenhang noch nie dagewesene Herausforderungen für das ukrainische Kulturschaffen. "Das ist wirklich eine interessante und wichtige Frage für die nächsten Jahre", erklärte er.

Für die Menschen sei es im vergangenen Jahr etwa sehr wichtig gewesen, auf Konzerte zu gehen und nicht nur im Internet auf Bilder zerstörter Städte zu blicken, sprach Zhadan über die therapeutische Funktion des Kulturbetriebs. Aber auch Charityevents seien ein wichtiges Element bei der Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte - mit zwei Auftritten in der Lwiwer Oper habe er kürzlich eine Million Hrywnja (25.000 Euro) sammeln können. Zwar sei dies im Vergleich mit dem Kriegsbudget nichts, andererseits könne man mit dieser Summe jedoch vier Autos, drei gute Autos oder zwei sehr gute Fahrzeuge kaufen, mit denen das Leben von Menschen gerettet werden kann. "Auch wenn nur das Leben eines einzigen Menschen gerettet wird, lohnt dieses Engagement, denn Menschenleben haben den höchsten Wert", sagte er und erntete damit Beifall seiner ukrainischen Zuhörerinnen und Zuhörer.

Womöglich wichtiger als dieses Spendensammeln erachtet Zhadan jedoch die Relevanz von Kulturschaffenden im Informationskrieg. Diese sei jedoch schwer zu quantifizieren - niemand können etwa den Einfluss eines Buchs etwa von Oksana Sabuschko auf das europäische Publikum genau berechnen. Kritik übte er dabei, dass die Ukraine in Europa lange Zeit durch eine russische Linse wahrgenommen sei.

"Sie leben hier und sehen, wie sich etwa in der österreichischen Gesellschaft das Verständnis und die Wahrnehmung von ukrainischen Ereignissen entwickelt hat. Das war ziemlich uneindeutig und nicht immer so, wie wir uns das wünschen", sagte der Literat, der gleichzeitig nostalgische Gefühle für Österreich hegt. Wien sei die erste Stadt im Ausland gewesen, in der er je gelebt habe, erzählte er und berichtete von einem Studienaufenthalt im Wintersemester 2000/2001, den ihm Schriftstellerkollege Jurij Andruchowytsch hier verschafft hatte. "Immer wenn ich nach Wien zurückkomme, erinnere ich mich an Orte Geschichten, Leute, Stimmen, Ansichten. Das sind sehr persönliche Dinge und daher ist es angenehm, hierher zurückzukehren", sagte der Literat, der im Anschluss am Donnerstagabend mit seiner Charkiwer Ska-Band "Zhadan i sobaky" (Zhadan und die Hunde") ein Konzert in der Szene Wien spielte.

ribbon Zusammenfassung
  • "Als der große Krieg begann, wurde klar, dass jetzt eine andere Literatur, eine andere Art zu schreiben, eine andere Sprache beginnt", sagte Zhadan.