63. Viennale - "In die Sonne schauen": Körpererinnerung
Die vier Geschichten der in Berlin geborenen Mascha Schilinski, die den Film gemeinsam mit Louise Peter geschrieben hat, erstrecken sich wie ein Wandteppich über etwa ein Jahrhundert. Alle spielen auf dem gleichen Vierkanthof in der Altmark. Die früheste spielt in einer Bauernfamilie, die sich auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorbereitet, und alle werden tadellos gespielt.
Tod liegt in der Luft. Es ist Allerseelen und die strenge, weißblonde Alma (die erstaunliche neunjährige Hanna Heckt), sozusagen die "Stammmutter" dieser generationsübergreifenden Geistergeschichte, macht ein Bild stutzig. Auf dem Kaminsims stehen monochrome Totenfotografien. Da entdeckt sie ein Bild, das ihre verschwommene Mutter (Susanne Wuest aus "Ich seh Ich seh") zeigt, wie sie mit dem reglosen Körper eines Kindes posiert, das Alma wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Das tote Mädchen auf dem Foto sei Alma, ärgern ihre Schwestern sie, und säen bei ihr schon früh den Samen der Angst, dass auch Alma eines Tages sterben muss.
Ihrem Bruder Fritz wird das Bein amputiert, damit er nicht in den Krieg muss. Eine ihrer Schwestern wird verheiratet. Aus Verzweiflung springt sie in den Tod. Das Hausmädchen wird zwangssterilisiert, damit ihr "keine Brötchen mehr im Ofen bleiben" und die Bauern mit ihr tun und lassen können, was sie wollen. Die Grausamkeiten, die vorwiegend Frauen zugefügt werden, ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film.
In den 1940ern bindet sich Erika (Lea Drinda) ein Bein ab, weil sie von ihrem amputierten Onkel fasziniert ist. Der Vater haut ihr eine runter, weil sie sich um die Schweine kümmern soll. In den 1980er-Jahren wird Erikas Nichte Angelika (die großartige Lena Urzendowsky) von ihrem Onkel Uwe (Konstantin Lindhorst) sexuell belästigt, und auch ihr Cousin (Florian Geißelmann) ist hinter ihr her. In der letzten Geschichte, die in der Gegenwart spielt, zieht eine Berliner Familie mit zwei Töchtern (Laeni Geiseler und Zoë Baier) auf den Hof. Eine davon hat eine unerklärliche Todessehnsucht.
Flimmernde Filmkörner und orangenes Wabern
All diese Geschichten und Zeiten verwebt Schilinski gekonnt zu einem großen Ganzen und allmählich sickern Muster von Gewalt, Unterdrückung und Leid durch die Wände. Kameramann Florian Gamper hat eine eindrucksvolle Bildsprache, die dem Film eine unheimlich ätherische Textur mit flimmernden Filmkörnern verleiht: Körper, die unter glitzerndem Wasser leuchten; eine Aufnahme von zwei Jugendlichen, die in der Dämmerung laufen, während der Mond wie ein Gespenst in der Ecke hängt.
Ein bedrohliches Brummen durchdringt den Soundteppich an mehreren Stellen, die auf den englischen Filmtitel "Sound of Falling" anspielen, während das deutsche Pendant "In die Sonne schauen" den Moment andeutet, wenn die Frauen in die Sonne blicken, ihre Augen schließen und hinter den geschlossenen Lidern ein orangenes Wabern zu sehen ist.
"Schon komisch, dass einem was weh tun kann, was gar nicht mehr da ist", denkt Alma sich an einer Stelle, und gemeint ist damit nicht nur das abgenommene Bein ihres Bruders. Es ist ein bewusst diffuser, zutiefst intelligenter und feministischer Film, der sich wie ein Traum anfühlt, aus dem man schummrig erwacht, nicht sicher, was man gerade gesehen hat, und der einen noch lange danach beschäftigt.
(Von Marietta Steinhart/APA)
(S E R V I C E - "In die Sonne schauen " von Mascha Schilinski, am 23. Oktober um 20.45 Uhr im Gartenbaukino und am 24. Oktober um 16 Uhr im Stadtkino. www.viennale.at)
Zusammenfassung
- Mascha Schilinskis Film "In die Sonne schauen" wurde in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet und ist Deutschlands Beitrag für den Oscar, die Österreichpremiere findet am 23. Oktober bei der Viennale statt.
- Der Film erzählt in vier Geschichten, die sich über rund ein Jahrhundert auf demselben Vierkanthof erstrecken, von Gewalt, Unterdrückung und Traumata, die sich wie Geister durch die Generationen ziehen.
- Die künstlerische Bildsprache und der Soundteppich schaffen eine ätherische Atmosphäre, während Themen wie Amputation, Zwangssterilisation und sexuelle Belästigung zentrale Rollen spielen.