Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: Suche nach dem Sündenbock

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Harmonie an der Oberfläche, tiefes Misstrauen im Hintergrund und überraschende Freiheiten für Wagner-Chef Prigoschin. Die Signale aus Russland sind widersprüchlich. Währenddessen läuft die ukrainische Gegenoffensive zögerlich an, kostet die Russen aber viel.

Aus heutiger Sicht würde man die Aktion der Wagner-Gruppe gegen das russische Militärestablishment in der letzten Woche wohl als aktive "Insubordination" bezeichnen, als Aufbegehren gegen eine als bürokratisch, korrupt und unfähig empfundene Führung.

Freiheiten für Prigoschin

Angesichts des andauernden Fehlens von verlässlicher Information über die Vorgänge im Bereich der oberen und obersten Ebenen des russischen Regimes ist allerdings für eine abschließende Bewertung große Vorsicht angebracht. Offenbar kann sich Jewgeni Prigoschin auch in Russland relativ ungehindert bewegen, seine in der letzten Woche beschlagnahmten Mittel sollen wieder freigegeben worden sein. 

Völlig unklar ist nach wie vor, wie es mit der Gruppe Wagner weitergeht. Wird es sie überhaupt weiterhin geben, wird sie aufgeteilt, was wird aus ihren schweren Waffen, wo könnte sie eingesetzt werden bzw. bleiben, Stichwort Afrika?

Oberflächliche Harmonie

Es hat den Anschein, als ob das in seiner Autorität angeschlagene Regime von Wladimir Putin derzeit nur eine einzige Priorität hätte, nämlich Kontrolle, Harmonie und Stabilität im Inneren Russlands zu demonstrieren. Hinter den Kulissen scheint es nach spärlich nach außen dringenden Informationen allerdings weniger ruhig zuzugehen: Offenbar werden die Rollen einzelner Regionalfunktionäre und Kommandeure der russischen Streitkräfte während des "Marsches der Gerechtigkeit" der Wagner-Gruppe auf Moskau genau untersucht. Nach wie vor besteht auch Unklarheit über den Aufenthalt des stellvertretenden Kommandeurs der russischen Truppen in der Ukraine, General Sergei Surowikin, der angeblich anhaltenden Verhören unterzogen wird. Er soll Ehrenmitglied der Gruppe Wagner sein.

Tiefes Misstrauen

Diese Umstände dokumentieren das tiefe Misstrauen zwischen Putin selbst, den "Stützen des Regimes", den obersten "Silowiki", den "Sicherheitsleuten" um Putin, den zivilen und militärischen Nachrichtendiensten und den Streitkräften. Jetzt, in einem Konflikt, der sich für Russland immer bedrohlicher entwickelt, wo die Fähigkeiten aller Akteure hoch beansprucht sind und abgestimmte, gemeinsame Anstrengungen erforderlich wären, rächt sich die Methodik des Machterhalts durch Putin, die stets durch Schüren von Rivalität, subtile Belohnungen und "Bestrafungen" sowie Günstlingswirtschaft gekennzeichnet war. Inwieweit man sich mit der Ankündigung einer zehnprozentigen Anhebung des Solds der russischen Soldaten auch deren Loyalität erkaufen kann, bleibt abzuwarten, wie die weitere Entwicklung der inneren Verhältnisse in Russland überhaupt.

Putin selbst hält flammende Ansprachen mit Lobeshymnen über die patriotische Leistung der Sicherheitskräfte bei der Verhinderung eines Bürgerkrieges und Appellen an die Geschlossenheit der Nation. Er mischt sich in Form von Doppelgängern unter das Volk und nimmt – ganz sein Land repräsentierender Staatsmann - an einer Videokonferenz der "Shanghai Cooperation Organisation" teil.

Diesem 2001 von China und Russland institutionalisierten, hauptsächlich gegen den Westen und die USA gegründeten Abstimmungsformat für politische, wirtschaftliche und Sicherheitsfragen gehören neben diesen beiden Ländern noch Indien, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Turkmenistan und Usbekistan sowie seit diesem Jahr auch der Iran an. 

So eindrucksvoll sich auf den ersten Blick das Bevölkerungspotenzial und die Wirtschaftskraft der Mitgliedsstaaten ausnehmen – sie vereinen 40 Prozent der Weltbevölkerung und 20 Prozent der Weltwirtschaftsleistung – so verschieden und rivalisierend stellen sich die jeweiligen nationalen Interessen allerdings auf den zweiten Blick dar, womit die Organisation alles andere als ein Bild einer homogenen, zu gemeinsamen koordinierten Handlungen fähigen Gemeinschaft bietet. Dies wurde auch bei der aktuellen Videokonferenz am Dienstag deutlich, als etwa der indische Ministerpräsident Narendra Modi die anderen Nationen dazu aufrief, sich im Kampf gegen den Terrorismus zu vereinigen - ein subtiler Vorwurf an das Mitgliedsland Pakistan, dem Indien die Unterstützung von Terroristen vorwirft. Modi war bekanntlich eben von einem Staatsbesuch in den USA zurückgekehrt, bei dem naturgemäß das gemeinsame Interesse beider Länder an einem Ausbalancieren der zunehmenden chinesischen Machtansprüche auch in Südasien auf der Tagesordnung gestanden war. Und China betrachtet wiederum die Mitgliedschaft Indiens im Abstimmungsformat "The Quad", dem sogenannten "Quatrilateralen Sicherheitsdialog" zwischen den USA, Australien, Japan und eben Indien, das als Ziel hat, einen "freien und offenen Indopazifik" zu gewährleisten, weil es dieses als ein Instrument zur Eindämmung Chinas sieht, misstrauisch.

Noch unangefochtener Staatenlenker

So gab es aus Sicht der anderen Mitgliedsstaaten bei dieser Konferenz eben Wichtigeres als den Aufstand einer Söldnertruppe in Russland, und wenn sich Wladimir Putin verbale Unterstützung für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine erhofft hatte, wurde er darin enttäuscht. Immerhin bot man ihm – auch für die Galerie in Russland – eine Plattform, sich als unangefochtener Staatenlenker im Kreise anderer politischer Führer darstellen zu können. Ob er das auch bleibt, wird wesentlich davon bestimmt, wie sich der Krieg gegen die Ukraine entwickelt.

Zögerndes Vorrücken 

Dort sehen wir nach wie vor eine Anfangsphase einer ukrainischen Offensive, in der nach einem ersten kampfkräftigen "Abtasten" der feindlichen Kapazitäten praktisch entlang der gesamten Front nunmehr zu Gefechten übergegangen wird, in denen die Voraussetzungen für Einbrüche, in weiterer Folge auch für raumgreifende Durchbrüche geschaffen werden sollen. Dabei sind die ukrainischen Kräfte bemüht, die eigenen Verluste so gering wie möglich zu halten, was bei einem fehlenden Luftschirm naturgemäß zu vorsichtigerem Vorgehen und Inkaufnahme von Verzögerungen führt.

Hohe russische Verluste

Gleichzeitig scheint es ihnen zu gelingen, den russischen Kräften (neuerlich) hohe Verluste beizubringen, und es kommen nunmehr unter Experten verstärkte und sehr gut begründete Zweifel auf, ob Russland in der Lage sein könnte, diese zu ersetzen. Hand in Hand geht dies mit einer sehr wirksamen Bekämpfung von Reserven, Führungs- und Informationszentralen sowie Munitions- und Treibstofflagern in der Tiefe des russischen Dispositivs, sodass für die russischen Truppen eine Situation drohen könnte, in der die in den Verteidigungslinien durch Verluste geschwächten Truppen nicht mehr systematisch geführt und nur mehr unzureichend versorgt werden können. Inwieweit sich daraus – zumindest partiell - eine russische Niederlage entwickeln würde, hängt von vielen Imponderabilien ab und ist daher zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verlässlich zu prognostizieren.

Eines lässt sich für einen derartigen Fall jedenfalls vorhersagen: Die in Russland in einer derartigen Situation übliche Suche nach Sündenböcken würde erheblich intensiviert – und es ist in diesem Fall nicht mehr ausgeschlossen, dass man dann nicht nur in der oberen Militärführung, sondern auch in der obersten Führungsebene des Staates fündig werden könnte.

ribbon Zusammenfassung
  • Harmonie an der Oberfläche, tiefes Misstrauen im Hintergrund und überraschende Freiheiten für Wagner-Chef Prigoschin. Die Signale aus Russland sind widersprüchlich.
  • In Russland wird die Suche nach einem Sündenbock intensiviert.
  • Gesucht wird vielleicht nicht nur in der oberen Militärführung, sondern auch in der obersten Führungsebene des Staates, meint Kolumnist Gerald Karner.