APA/APA (AFP)/LOUISA GOULIAMAKI

Zehn Staaten nehmen Minderjährige aus Moria auf

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Nach dem Großbrand im griechischen Flüchtlingscamp Moria wollen 10 europäische Länder insgesamt 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen. Das teilte der deutsche Innenminister Horst Seehofer mit. Dass sich Österreich nicht beteilige, sei "überraschend", so Seehofer. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ging mit der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hart ins Gericht.

"Unsere Kontakte mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben bis zur Stunde dazu geführt, dass sich mit uns zehn europäische Mitgliedsländer an den Hilfen - das heißt an der Umsiedlung für die unbegleiteten Minderjährigen - beteiligen", so Seehofer. Deutschland hat derzeit den EU-Vorsitz inne. Man sei aber noch mit weiteren Ländern im Gespräch, erklärte Seehofer.

Angesichts der Regierungsbeteiligung der Grünen sei es "überraschend", dass Österreich bisher keine Zusage gemacht habe, betonte der CSU-Politiker. In Österreich lehnt die ÖVP die Aufnahme von Geflüchteten aus Moria strikt ab. Der kleinere Koalitionspartner, die Grünen, haben sich ebenso wie die Oppositionsparteien SPÖ und NEOS, Bundespräsident Alexander Van der Bellen sowie zahlreiche Hilfsorganisationen dafür ausgesprochen.

Türkis-grüne Regierung zusehends gespalten

Ein Großteil der Menschen - je 100 bis 150 - werde von Deutschland und Frankreich aufgenommen, erklärte Seehofer. Aber auch Finnland, Luxemburg, Belgien, Kroatien, Slowenien, die Schweiz, die Niederlande und Portugal haben sich laut Nachrichtenagentur dpa bereit erklärt, sich an der Umsiedelung zu beteiligen. Auch Italien unterstütze den deutsch-französischen Vorstoß, wie Regierungschef Giuseppe Conte laut Nachrichtenagentur ANSA sagte. Ob Italien konkret mit der Aufnahme von Migranten helfen wolle, ließ der Regierungschef offen. "Perspektivisch müssen wir allerdings verhindern, dass sich so etwas wiederholt. Auch wir leiden, unsere Aufnahmezentren sind überfüllt", mahnte er.

In Deutschland sei eine Ankunft der Jugendlichen spätestens bis Monatsende geplant. Eine genaue Zahl könne aber erst genannt werden, wenn die Gespräche mit den anderen EU-Staaten abgeschlossen seien. "Die 400 Minderjährigen sind ein erster Schritt und diesem ersten Schritt wird ein weiterer folgen", erklärte Seehofer. Er wolle, dass man sich dabei auf Familien mit Kindern konzentriere.

Die Regierungsspitze in Wien vermied am Freitag einen Streit auf offener Bühne wegen der Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria. Sowohl Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) als auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) betonten, dass die unterschiedlichen Haltungen der Parteien hinlänglich bekannt seien. Gesprochen werde aber über weitere Schritte bei humanitären Hilfen. Die Hilfe vor Ort sei nämlich das, wo es gemeinsame Schnittstellen gebe, sagte Kurz. Das Nein der ÖVP zur Flüchtlingsaufnahme hatte am Donnerstag zu teils scharfer Kritik von Seiten Koglers und der Grünen Klubobfrau Sigrid Maurer geführt.

Auch der grüne Abgeordnete Michel Reimon hielt im Interview mit PULS 24 Chefreporterin Magdalena Punz nicht mit Kritik an Bundeskanzler Kurz hinter dem Berg.

Luxemburgs Außeminister macht Kurz verantwortlich

Der luxemburgische Außenminister machte am Freitag Kurz persönlich für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik verantwortlich. "Für mich heißt der Missetäter Sebastian Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation als Allererster zu verantworten", sagte Asselborn dem deutschen Magazin "Der Spiegel" laut einer Vorausmeldung. "Ganz Europa ging Kurz' Gerede auf dem Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige", kritisierte Asselborn mit Blick auf die Flüchtlingskrise 2015/16.

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Als er bei einem EU-Ministertreffen im März vorgeschlagen habe, die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus dem griechischen Camp Moria und anderen Lagern in der EU zu verteilen, habe Österreich ablehnend reagiert. Der Vertreter Österreichs habe gesagt, man würde keine Jugendlichen aufnehmen, "sondern Container auf die Insel schicken, Toiletten also", erinnerte sich Asselborn.

Asselborn sieht nun vor allem die Kommissionschefin Ursula von der Leyen in der Pflicht. "Es ist an der Zeit, dass die Kommissionschefin alle Hebel in Bewegung setzt, um auch jene zwei Drittel der EU-Länder, die immer noch so tun, als gingen sie die Flüchtlinge an Europas Haustür nichts an, dazu zu bringen, sich solidarisch zu zeigen", forderte er.

Dziedzic auf Lesbos: "Moria ist als 'Hölle' in Verruf geraten, jetzt kommt Fegefeuer dazu"

Die Grünen-Vizeklubchefin Ewa Ernst-Dziedzic befindet sich auf der griechischen Insel Lesbos und schildert im Interview mit PULS 24 Moderatorin Bianca Ambros die Stimmung unter Flüchtlingen und Inselbewohnern.

Das Camp Moria war in der Nacht auf Mittwoch durch zahlreiche Brände fast vollständig zerstört worden. Statt der vorgesehenen knapp 3.000 Migranten waren dort fast 13.000 Menschen untergebracht gewesen. Einige der Bewohner sollen Feuer gelegt haben, nachdem für die Menschen im Camp wegen Corona-Infektionen Quarantäne verordnet worden war. Die "Nicht-Lösung" in den Verhandlungen zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik habe zu der jetzigen katastrophalen Situation auf Lesbos geführt, betonte Seehofer. Er berichtete, dass Griechenland am Donnerstag Vorschläge übermittelt habe, wie Deutschland bei der Unterbringung und Versorgung der obdachlos gewordenen Menschen vor Ort helfen könne.

In Lesbos selbst verstärkte die griechische Regierung indes die Polizeikräfte. Wie das griechische Fernsehen zeigte, kamen Freitag früh mehrere Busse mit zusätzlichen Bereitschaftspolizisten sowie zwei Wasserwerfern an Bord einer Fähre in der Inselhauptstadt Mytilini an. Nach dem Brand herrschen auf der Insel chaotische Zustände. Mehr als 12.000 Migranten verbrachten die dritte Nacht in Folge im Freien. Manche legten immer wieder Feuer in den übrig gebliebenen Teilen des Camps und den umliegenden Feldern.

Bewohner auf Lesbos wollen keine Flüchtlinge mehr

Die Verstärkung der Polizeieinheiten richtet sich aber auch an die zunehmend aufgebrachten Inselbewohner. Viele, darunter fast alle Bürgermeister, wollen nach dem Brand in Moria keine Migranten mehr auf der Insel haben. "Sie müssen alle weg. Kein Lager mehr auf Lesbos", erklärte der Gouverneur der Region Nordägäis, Kostas Moutzouris, im Fernsehen. Angst herrscht nicht zuletzt, weil mindestens 35 Geflüchtete positiv auf das Coronavirus getestet waren und die Inselbewohner einen unkontrollierten Ausbruch des Virus befürchten.

Anrainer blockieren immer wieder Zufahrtsstraßen zu jenen Orten, an denen die Regierung provisorische Lager einzurichten plant, um die obdachlosen Menschen vorläufig unterzubringen. "Wir werden das nicht zulassen, koste es, was es wolle", sagten aufgebrachte Einheimische. Die meisten Inselbewohner seien müde und enttäuscht von der EU. Keiner könne es ertragen, wenn so viele Migranten für so lange Zeit auf einer Insel lebten, hieß es.

Die griechischen Behörden begannen inzwischen mit der Errichtung eines provisorischen Zeltlagers. Darin soll bis auf Weiteres ein Großteil der fast 13.000 Migranten untergebracht werden, die durch der Zerstörung des Lagers Moria vor drei Tagen obdachlos geworden sind.

"Moria existiert nicht mehr"

Der für Migration zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, sagte am Freitag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Seehofer in Berlin: "Moria existiert nicht mehr." Mithilfe der Europäischen Union solle nun eine neue, modernere Einrichtung errichtet werden, in der Asylverfahren schneller durchgeführt werden könnten. Dies wolle er dem griechischen Regierungschef vorschlagen. Schinas bekräftigte zudem, dass die EU-Kommission am 30. September neue Vorschläge für die jahrelang blockierte Reform der EU-Migrations- und Asylpolitik vorlegen werde.

Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler sprach den Befürwortern einer "menschlicheren Asylpolitik" - so auch das Motto vieler Proteste in zahlreichen europäischen Städten - indes Mut zu. Die Zivilgesellschaft müsse nun Druck auf die Regierungen ausüben für eine "totale Evakuierung" der 13.000 obdachlos gewordenen Menschen und um den Wiederaufbau des "Elendslagers" zu verhindern, so Ziegler im APA-Interview. Insbesondere Österreich habe eine "lebendige Demokratie" und "in einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht", erklärte der Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats und frühere UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Nach der Katastrophe auf Lesbos müsse die Situation nun "radikal verändert" werden.

Parlamentarier gegen Wiederaufbau

150 Europaabgeordnete warnen eindringlich vor dem Wiederaufbau des Camps und mahnen die Aufnahme der rund 13.000 Migranten durch andere EU-Staaten an. "Moria wiederaufzubauen ist keine Lösung, ebenso wenig ist eine Lösung, andere Camps mit ähnlichen Bedingungen zu schaffen", heißt es in einem Schreiben vom Freitag.

Der Brief ist an die zuständigen EU-Kommissare sowie an den deutschen Innenminister Horst Seehofer als Vertreter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gerichtet. Für die Menschen aus dem zerstörten Camp müssten nachhaltige Lösungen gefunden werden, indem sie von anderen EU-Staaten aufgenommen werden, schreiben die Abgeordneten mehrerer Fraktionen.

ribbon Zusammenfassung
  • Deutschland hat derzeit den EU-Vorsitz inne.
  • Man sei aber noch mit weiteren Ländern im Gespräch, erklärte Seehofer.
  • In Lesbos selbst verstärkte die griechische Regierung indes die Polizeikräfte.

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