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Streit um Polen überschattete Merkels Abschiedsgipfel

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Bei ihrem wohl letzten EU-Gipfel hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel neuerlich ihre Brückenbauerqualitäten beweisen müssen. Die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs wurde nämlich vom Ringen um Migration und dem Rechtsstaatsstreit mit Polen überschattet. Merkel wurde von den EU-Chefs - darunter erstmals Alexander Schallenberg (ÖVP) - am Freitag mit Standing Ovations verabschiedet. Sie selbst sagte, dass auf ihren Nachfolger große Baustellen in der EU warten.

In ihren Würdigungen machten die Staats- und Regierungschefs deutlich, wie sehr Merkel der Europapolitik fehlen wird. Merkel sei "ein Kompass und eine Lichtgestalt unseres europäischen Projekts", sagte EU-Ratschef Charles Michel. Ein Gipfel ohne Merkel sei wie "Rom ohne den Vatikan oder Paris ohne den Eiffelturm". Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel nannte sie eine "Kompromissmaschine". Schallenberg nannte Merkel einen "Ruhepol innerhalb der Europäischen Union". Er erklärte: "Sie wird eine Lücke hinterlassen". Für Österreich sei wichtig zu wissen, wo Deutschland stehe. Merkel sei "zweifellos eine große Europäerin", sagte er.

Merkel selbst zog ein nachdenkliches Resümee. "Die Baustellen für meinen Nachfolger sind groß", sagte sie nach dem Gipfel. Es gebe eine Reihe von ungelösten Problemen. Sie nannte den Streit um die Rechtsstaatlichkeit mit Polen und das Thema Migration. "Das ist etwas, wo wir natürlich auch von außen immer wieder verwundbar sind."

Merkel verwies darauf, es gebe zwischen den Mitgliedstaaten generelle Differenzen, wer sich zu einer weiter fortschreitenden politischen Integration der EU bekenne und wer nicht. Das betreffe nicht nur Polen, betonte Merkel, die anders als einige andere Regierungschefs nicht für eine härtere Haltung gegenüber der nationalkonservativen polnischen Regierung plädierte. "Das Gespräch ist schon sehr, sehr wichtig gewesen", sagte sie nach dem EU-Gipfel. Sie habe eine breite Übereinstimmung dafür gefunden, dass man über die Entwicklung der EU reden müsse. Zugleich betonte sie mit Blick auf ihren Warschauer Amtskollegen: "Der polnische Ministerpräsident hat gestern sehr deutlich gemacht, dass er sich natürlich zu den europäischen Verträgen bekennt."

Inhaltlich gab es beim Gipfel tatsächlich reichlich Konfliktpotenzial. So zeigte sich am Freitag, dass die EU mit Reformplänen für die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik kaum vorankommt - auch wenn Michel von einem "Fenster der Möglichkeiten" sprach. Mit Blick auf die illegale Migration über Belarus ist man sich zumindest in der Bewertung des Vorgehens von Machthaber Alexander Lukaschenko einig. "Der Europäische Rat wird keinen Versuch von Drittländern akzeptieren, Migranten für politische Zwecke zu instrumentalisieren", hieß in der Gipfelerklärung. "Er verurteilt die jüngsten hybriden Angriffe auf die EU-Außengrenzen und wird entsprechend reagieren."

Damit dürfte vor allem der Versuch gemeint sein, die EU nicht mit Waffen anzugreifen, sondern durch eine Vielzahl an Migranten zu destabilisieren. Merkel warf Lukaschenko staatlichen Menschenhandel vor. "Hier wird auf dem Rücken von Menschen durch Lukaschenko Politik gemacht und erfolgt eine politische Instrumentalisierung."

Der belarussische Präsident hatte Ende Mai angekündigt, dass Minsk Migranten nicht mehr an der Weiterreise in die EU hindern werde - als Reaktion auf verschärfte westliche Sanktionen gegen sein Land. Seitdem mehren sich versuchte illegale Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen zu Belarus sowie an der deutsch-polnischen Grenze.

Doch wie soll auf den "Angriff" reagiert werden? Neue Sanktionen gegen Belarus werden bereits vorbereitet. Die angrenzenden EU-Länder Litauen, Lettland und Polen haben mit dem Bau von Hunderten Kilometer langen Zäunen begonnen. Österreich und Dänemark forderten beim Gipfel, dass derlei Zäune zumindest zum Teil von der EU finanziert werden sollten. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erteilte dem jedoch eine entschiedene Absage.

Nach stundenlanger Debatte wurde der Abschlusstext dann noch etwas schärfer gefasst - Mauern, Zäune oder Stacheldraht wurden jedoch nicht genannt. Die EU werde sich dem hybriden Angriff durch Belarus weiter widersetzen, auch durch weitere "restriktive Maßnahmen", hieß es. "Mauerbau ist etwas, was mir sprachlich widerspricht", sagte Schallenberg. Es brauche aber einen "robusten Außengrenzschutz", so der Kanzler weiter, der die Frage stellte, warum ausschließlich litauische Steuerzahler die Kosten dafür tragen sollten, "wenn sie uns alle schützen".

Die EU-Kommission solle mögliche Änderungen am gemeinsamen Rechtsrahmen sowie konkrete Maßnahmen vorschlagen, damit schnell und angemessen auf derlei Angriffe reagiert werden könne, beschlossen die EU-Chefs. Die Maßnahmen müssten in Einklang mit EU-Recht und Grundrechten sein.

Weiter ging auch der Streit über den Zustand der polnischen Justiz - zur Frustration einiger Staats- und Regierungschefs. Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel sagte etwa, er würde sich wünschen, dass nicht bei jedem dritten Gipfel über die "elementarsten Werte" diskutiert werden müsse, "weil der eine oder andere uns das Leben nicht unmöglich, aber sehr schwer macht". Unterstützung erhielt Polen von der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen und der FPÖ, die zugleich Bundeskanzler Schallenberg das Recht absprach, Polens Justiz zu kritisieren und diesbezüglich auf den seit Monaten andauernden Feldzug seiner ÖVP gegen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft verwies.

Nach dem Gipfel war der Ton recht versöhnlich. Michel und Merkel betonten, der Streit solle im Dialog gelöst werden. "Es handelt sich auch um eine politische Aufgabe", sagte Merkel. Es habe eine breite Übereinstimmung gegeben, "dass diese politischen Gespräche, die richtige Einordnung, das respektvolle Miteinanderumgehen, von großer Bedeutung sind, um solche komplizierten Fragen auch zu lösen". Der französische Staatschef Emmanuel Macron sagte, der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki habe die Bereitschaft zu konkreten Gesten des Entgegenkommens gezeigt.

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war um Beruhigung bemüht. Sie betonte nach dem Gipfel, dass sie den Rechtsstaatsmechanismus erst nach einem EuGH-Urteil zum Thema anwenden will. Damit schlug sie sich auf die Seite von Polen und Ungarn und ging auf Konfrontationskurs zum Europaparlament, das eine sofortige Anwendung des Mechanismus zur Aussetzung von EU-Subventionen fordert.

Die EU-Kommission wirft Warschau vor, die Unabhängigkeit von Richtern zu untergraben. Zuletzt drohte der Konflikt zu eskalieren. Hintergrund des aktuellen Streits ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts in Warschau, nach dem Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar sind. Diese Entscheidung wird von der EU-Kommission und etlichen anderen Staaten als höchst problematisch angesehen, weil sie Warschau einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu ignorieren.

Nur kurz angerissen wurden beim Gipfel Themen wie die Corona-Krise und die Digitalisierung. Vor allem die dramatische Corona-Lage in EU-Ländern wie Bulgarien bereitet den Staats- und Regierungschefs Sorgen. In der Abschlusserklärung betonten sie, mehr gegen Impf-Skepsis tun zu wollen. Desinformationen in sozialen Netzwerken müssten bekämpft werden. Mit Blick aufs Digitale sollen vorliegende Gesetzespakete und andere Vorhaben vorangebracht und schnell umgesetzt werden.

Abgesehen von einem feierlichen Abschied war es für Merkel also viel "Business as usual". Wenn auch zum wohl letzten Mal. Zum nächsten EU-Gipfel am 16. und 17. Dezember wird Olaf Scholz als deutscher Kanzler anreisen, falls die Ampel-Parteien in Berlin ihren Fahrplan halten.

ribbon Zusammenfassung
  • Bei ihrem wohl letzten EU-Gipfel hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel neuerlich ihre Brückenbauerqualitäten beweisen müssen.
  • Die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs wurde nämlich vom Ringen um Migration und dem Rechtsstaatsstreit mit Polen überschattet.
  • Es gebe eine Reihe von ungelösten Problemen.
  • Michel und Merkel betonten, der Streit solle im Dialog gelöst werden.
  • "Es handelt sich auch um eine politische Aufgabe", sagte Merkel.