"Winter des Unmuts": Massenstreik in Großbritannien

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Mit dem größten Streik seit etlichen Jahren hat der "Winter des Unmuts" in Großbritannien seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Schätzungen zufolge legten am Mittwoch eine halbe Million Beschäftigte in mehreren Branchen die Arbeit nieder. Sie demonstrierten vor allem für deutlich stärkere Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen - aber auch für das Streikrecht an sich.

Sieben Gewerkschaften hatten den nationalen Protesttag koordiniert. Downing Street warnte vor "erheblichen Störungen".

2011 hatten schätzungsweise zwei Millionen Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes die Arbeit niedergelegt. Dass in mehreren Branchen koordiniert gestreikt wird, ist aber seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen. Nun streikten Lehrer und Lokführer, Hochschuldozenten und Regierungsmitarbeiter, Busfahrer und Sicherheitskräfte gleichzeitig. Längst ist in der britischen Öffentlichkeit von einem "Winter des Unmuts" die Rede.

Die Unzufriedenheit ist in allen Branchen enorm. Für die kommenden Tage sind weitere Ausstände angekündigt, für Montag und Dienstag etwa erneut vom Pflegepersonal des Gesundheitsdienstes NHS. Für zusätzliche Kopfschmerzen der konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak dürfte sorgen, dass bald auch Feuerwehrleute streiken wollen. "Diese Probleme werden nicht auf magische Weise verschwinden", sagte der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds TUC, Paul Nowak.

Die Streikenden eint die Forderung nach einer inflationsgerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut zehn Prozent sind die Verbraucherpreise zuletzt gestiegen, doch das Lohnangebot der Regierung liegt deutlich darunter. Lehrerinnen und Lehrer etwa sollen fünf Prozent mehr erhalten. Viel zu wenig, schimpfte die zuständige Gewerkschaft NEU. Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheiden. "Die Regierung hat unser Bildungssystem heruntergewirtschaftet, unsere Schulen unterfinanziert und die Menschen, die dort arbeiten, unterbezahlt", sagte NEU-Co-Chef Kevin Courtney. Schätzungsweise 120.000 Lehrerinnen und Lehrer legten nun in England und Wales für einen Tag die Arbeit nieder. Etwa 23.000 Schulen blieben geschlossen.

Den Lehrkräften schlossen sich Zehntausende Beschäftigte von 150 Hochschulen an, außerdem Lokführer von 14 privaten Bahnunternehmen. Dazu kamen etwa 100.000 Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes aus 124 verschiedenen Regierungsbehörden, aber auch Fahrschulprüfer.

Doch die Regierung lehnt Nachverhandlungen ab. Premier Sunak warnte wiederholt, eine inflationsgerechte Anhebung würde den "Teufelskreis" immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben.

Den Unmut treibt ein umstrittenes Regierungsvorhaben an. Sunak und Wirtschaftsminister Grant Shapps haben die ständigen Arbeitskämpfe seit dem vorigen Sommer satt und wollen per Gesetz das Streikrecht einschränken. Für Polizisten, Feuerwehrleute, NHS-Kräfte oder Bahnpersonal sollen strikte Beschränkungen gelten. Sunak argumentiert, damit solle die Grundversorgung gewährleistet werden.

"Die Menschen können nicht frei wählen, wann sie einen Rettungswagen oder die Feuerwehr benötigen", sagte Shapps. Sein Entwurf biete eine faire Balance zwischen Streikrecht und den Nöten der Bevölkerung. Am Montag hatte das von den Tories dominierte Unterhaus das Gesetz in dritter Lesung angenommen. Doch im Oberhaus wird Widerstand erwartet.

Gewerkschaften und Opposition kritisieren die Pläne scharf. Das Vorhaben sei "undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal", so TUC-Generalsekretär Nowak. Streikende Arbeitnehmer müssten fürchten, ihre Jobs zu verlieren. Labour-Vize Angela Rayner nennt das Gesetz den "Feuert-die-Pflegekräfte-Entwurf" - und trifft damit den Nerv vieler. In Umfragen unterstützt eine Mehrheit die Streikenden. Schuld am Chaos ist für viele die Regierung.

Konnten die Konservativen in der Vergangenheit wiederholt die Labour Party, die eng mit den Gewerkschaften verwoben ist, für Streikfolgen verantwortlich machen, zieht dieser Ansatz nach Einschätzung von Beobachtern nicht mehr. Zu viele Menschen sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen. "Wegen der Lebenskostenkrise kann man diese Streiks nicht mehr als ideologiegetrieben darstellen", sagte James Frayne vom Beratungsunternehmen Public First dem Online-Portal "Politico".

Vielmehr drückt die empfundene Sturheit der Regierung auf ihre Umfragewerte. Seit Monaten liegt Labour klar in Führung, eine Kehrtwende ist bisher nicht absehbar. Stand jetzt müssten die Tories bei der für 2024 erwarteten Parlamentswahl ein Debakel befürchten.

Dennoch: Nachgeben werde Sunak nicht, meinen Parteikollegen. Von ihnen bekommt der Premierminister vielmehr Rückendeckung. Die Inflation werde bald weiter sinken, damit würden Verbraucher entlastet, zitierte "Politico" einen Tory-Abgeordneten. "Deshalb müssen wir so hart wie möglich bleiben."

Infolge der Inflation von mehr als zehn Prozent - dem höchsten Stand seit vier Jahrzehnten - hat Großbritannien in den vergangenen Monaten bereits eine Welle von Streiks in verschiedenen Sektoren erlebt, darunter Gesundheits- und Transportarbeiter, Lagerarbeiter von Amazon und Postpersonal von Royal Mail. Nächste Woche wollen Krankenschwestern, Sanitäter, Notrufbetreuer und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen in den Streik treten.

ribbon Zusammenfassung
  • Mit dem größten Streik seit etlichen Jahren hat der "Winter des Unmuts" in Großbritannien seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
  • Längst ist in der britischen Öffentlichkeit von einem "Winter des Unmuts" die Rede.
  • Premier Sunak warnte wiederholt, eine inflationsgerechte Anhebung würde den "Teufelskreis" immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben.
  • Zu viele Menschen sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen.

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