APA/APA (dpa/Symbolbild)/Julian Stratenschulte

Wiener Missbrauchsfall: Weitere Betroffene am Wolfgangsee

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Im Missbrauchsfall um einen Sportlehrer, der bis zu seinem Suizid im Mai 2019 an einer Wiener Mittelschule etliche Buben im Alter von neun bis 14 Jahren missbraucht haben dürfte und womöglich zwei Mittäter hatte, gibt es weitere Betroffene in einem Feriencamp am Wolfgangsee.

Das gab der Verein Ferienhort - eine große Einrichtung, die seit 1888 besteht und Sommer-Camps für Kinder und Jugendliche veranstaltet - am Dienstag auf APA-Anfrage bekannt.

Wie Philipp Schrangl, Vorstandsmitglied und Rechtsberater des Vereins, im Gespräch mit der APA mitteilte, hat sich nach dem bisher schon bekannten Fall - ein ehemaliger Teilnehmer des Camps hatte 2013 wegen eines bei einer Massage erfolgten Missbrauchs gegen den Wiener Sportlehrer Anzeige erstattet, die aus nach wie vor nicht geklärten Umständen "versandete" - nun ein weiterer Betroffener gemeldet. Dieser - laut Schrangl ein ehemaliger Teilnehmer, der später selbst als Betreuer im Ferienhort beschäftigt war, sei "um 2008" vom Wiener Pädagogen missbraucht worden, der seit 1990 bis 2010 mit Unterbrechungen während der Sommermonate außerschulisch als Ferien-Betreuer im Salzkammergut im Einsatz war.

Möglicher Mittäter "eingescheleust"

Bei dem nun bei der Ombudsstelle des Vereins gemeldeten Vorfall habe es sich um "keine Vergewaltigung" gehandelt, "aber das Opfer hat es als sexuellen Übergriff empfunden", sagte Schrangl. "Wir finden jetzt heraus, was passiert ist", sicherte Schrangl zu. Man werde den Betroffenen - dessen Wünschen entsprechend - entweder zur Polizei begleiten, um den Sachverhalt aufnehmen zu lassen, oder den Weißen Ring bitten, den Mann dabei zu unterstützen.

Darüber hinaus wurde zumindest einer der beiden möglichen Mittäter des Wiener Pädagogen von diesem auch im Ferienhort "eingeschleust". Es handelte sich dabei um einen früheren Schüler des Sportlehrers,"der zwar nie eine Funktion bei uns gehabt hat. Aber der Pädagoge hat ihn 2008 zu uns mitgenommen, damit er ihm beim Aufstellen der Trainingsgeräte hilft", schilderte Schrangl. Der "Helfer" habe sich insgesamt drei Tage im Camp befunden und sei dem Sportlehrer beim Geräteturnen assistierend zur Seite gestanden. Zu bedenklichen Übergriffen sei es in diesem Zeitpunkt "unseres Wissens nicht gekommen, er war auch nie alleine mit Kindern", berichtete Schrangl.

"Zero-Tolerance-Politik"

Allerdings habe der junge Mann, der damals selbst noch fast ein Jugendlicher gewesen sei, nachher über Skype ein Mädchen angeschrieben, das er im Ferienhort kennengelernt hatte. "Das Mädchen behauptet, dass es von ihm nach dem Sommer Videos mit unangemessenen, anstößigen Inhalten bekommen hat", erklärte Schrangl. Dieser Fall werde "selbstverständlich eingehend untersucht". Dasselbe gelte zur Frage, ob der zweite mögliche Mittäter des Sportpädagogen - ein Basketball-Trainer - je im Ferienhort beschäftigt war. Derzeit gebe es darauf keine Hinweise.

"Es wird eine umfassenden Aufklärung des ganzen Komplexes geben", garantierte Schrangl, der auch freiheitlicher Nationalratsabgeordneter ist. Vor fünf Jahren habe eine Verjüngung des Vereinsvorstands stattgefunden: "Wir haben uns einer absoluten Zero-Tolerance-Politik verschrieben, was das Thema Kinderschutz betrifft." Im Ferienhort gebe es inzwischen spezielle Betreuerinnen und Betreuer, "an die sich Kinder und Jugendliche direkt wenden können, wenn sie Auffälligkeiten wahrnehmen oder selbst erfahren".

KJA in der Kritik

Indes gerät im inzwischen weitverzweigten Missbrauchsfall die Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) in ein immer schieferes Licht. Die dem Kindeswohl verpflichtete Ombudsstelle wusste seit Herbst 2018 von Berichten über übergriffiges Verhalten eines möglichen Mittäters, informierte aber nicht die Staatsanwaltschaft. Auch die Bildungsdirektion Wien dementierte am Dienstag, entsprechende Informationen zeitnahe von der KJA erhalten zu haben. "Wir haben davon letzte Woche erfahren", teilte eine Sprecherin der Bildungsdirektion auf APA-Anfrage mit.

Das Agieren der KJA löste am Dienstag scharfe politische Kritik der Wiener Oppositionsparteien aus. "Die Verfehlungen bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft in Zusammenhang mit den Missbrauchsvorwürfen an einer Mittelschule stehen sinnbildlich für das Systemversagen in Wien", meinte ÖVP-Gemeinderat Harald Zierfuß in einer Aussendung. Die Grünen Bildungssprecher:innen Julia Malle und Felix Stadler orteten ein "Systemversagen" und verlangten "sofortige Konsequenzen", falls die Arbeit der Kinder- und Jugendanwaltschaft "nicht ordentlich gemacht" worden sein sollte. Sie verlangten die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission.

Wie die APA bereits berichtet hatte, war in der Basketball-Szene das Verhalten des Mannes, der in einem Verein als Basketball-Trainer tätig war, seit längerem Gesprächsthema. Er wurde wiederholt dabei beobachtet, wie er auf Turnieren Buben aus seiner Mannschaft körperlich sehr nahe kam. Schließlich nahm sich der Wiener Basketballverband (WBV), dem mehrfach entsprechende Wahrnehmungen gemeldet wurden, im Herbst 2018 dieses Themas an, wobei vom WBV die KJA beigezogen wurde.

Es kam am 26. November 2018 zu einem Treffen zwischen Vertretern des betroffenen Vereins, des Verbands und einer Vertreterin der KJA, bei dem die Situation besprochen wurde. "Die Melderinnen sind sehr besorgt, dass [... ] (Name des Trainers, Anm.) sehr bewusst die Nähe zu kleinen Buben sucht", wurde laut einem schriftlichen Protokoll über die Besprechung festgehalten. Und weiter: seit 2000 (sic) falle auf, dass der Trainer immer wieder Buben auf seinem Schoß sitzen habe. 2018 sei beobachtet worden, wie er einen etwa Zehnjährigen am Schoß sitzen hatte, diesen am Gesäß anfasste und sich dabei erregt hätte. In der Garderobe habe der Trainer Buben eingecremt und dabei auch deren Gesäß berührt und eingecremt. Einen Buben habe er allein im Auto mitgenommen.

Wiener Basketballverband meldete Vorgänge 2019 der Staatsanwaltschaft

Bei einem Termin am 13. Dezember 2018 wurde der Trainer - wieder im Beisein der KJA - mit diesen Vorwürfen konfrontiert. Es wurde mit ihm eine Vereinbarung getroffen, die vorsah, dass der Mann "Hilfsdienste" in der Garderobe einstellen musste, keine körperliche Nähe mehr suchen und Kinder unter 14 Jahren nicht mehr trainieren durfte und sich der Kontakt zu Jugendlichen auf die Vereinsöffentlichkeit zu beschränken hatte. Im Gegenzug wurde von einer Anzeige abgesehen - mit Wissen und Zustimmung der KJA, wie der Leiter der Ombudsstelle, Ercan Nik Nafs, schon in der Vorwoche der APA bestätigt hatte. Es habe "keine handfesten Beweise für ein klares strafrechtliches Fehlverhalten" gegeben, zum damaligen Zeitpunkt hätten sich keine Opfer und keine Zeugen gemeldet gehabt, sagte Nik Nafs.

Die Wiener ÖVP zeigte sich darüber empört. "Eine Vereinbarung mit einem Menschen zu treffen, der mutmaßlich mehrere Buben missbraucht haben soll, ist jedenfalls völlig verantwortungslos. Eine Ombudsstelle muss im Sinne der Opfer handeln und darf in keinem Fall derartige fehlgeleitete Vereinbarungen treffen. Hier braucht es eine schonungslose und umfassende Aufklärung seitens des verantwortlichen Bildungsstadtrates Wiederkehr", betonte der Wiener Mandatar Zierfuß.

Das Ausmaß der unüblichen körperlichen Nähe, die der Trainer zu Buben herstellte, legt allerdings legt allerdings nahe, dass das Verhalten des Trainers schon damals auf eine mögliche geschlechtliche Nötigung (§ 202 StGB) bzw. Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (§ 205a StGB) sowie den Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses (§ 212 StGB) zu prüfen gewesen wäre. Diese Einschätzung obliegt ader Staatsanwaltschaft. Die KJA ist keine Strafverfolgungsbehörde. Darauf angesprochen, hielt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien, Judith Ziska, am Dienstag zum Grundsätzlichen fest: "Das allfällige Prüfen von Sachverhalten auf ihre strafrechtliche Relevanz ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft." Man könne aber nur prüfen, wenn man von solchen Sachverhalten erfährt, sagte Ziska auf APA-Anfrage.

Kenntnis über die Vorgänge um den Basketball-Trainer erlangte die Staatsanwaltschaft erst 2019, nachdem der Wiener Basketballverband - und nicht die KJA - entsprechende Unterlagen der Polizei übergeben hatte, weil sich der Trainer nicht an die getroffene Vereinbarung gehalten hatte. Weder war er zur Männerberatung gegangen, noch hatte er den Kontakt zu unter 14-Jährigen eingestellt. "Wir wurden in einem Polizeibericht informiert, dass es allfällige Verdachtsmomente gibt", bestätigte nun die Sprecherin der Anklagebehörde. Die Polizei habe darauf bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft nachgefragt: "Auf Nachfrage der Polizei hat es geheißen, dass keine strafbaren Handlungen passiert sind." Es hätten sich keine Opfer und keine Zeugen gemeldet, es sei niemand an die KJA herangetreten, schilderte Ziska gegenüber der APA, was die Polizei von der KJA an Rückmeldung erhalten habe.

Mögliche Beseitigung der Beweise

Erst am vorvergangenen Montag wurden der Basketballtrainer sowie ein weiterer Bekannter des Sportlehrers - die gegen diesen gerichteten Ermittlungen wurde nach dessen Selbstmord am 6. Juni 2019 eingestellt - von einer Opfer-Anwältin als mögliche Mittäter angezeigt. Die Staatsanwaltschaft prüft nach wie vor, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird.

Gegen den zweiten Bekannten - den ehemaligen Schüler des Sportlehrers - steht auch der Verdacht im Raum, dieser könne möglicherweise Beweismaterial beiseite geschafft haben. Konkreten Beleg dafür gibt es zwar nicht, aber bei einer Hausdurchsuchung, die im Frühjahr 2019 bei dem Sportlehrer durchgeführt wurde, blieben der Keller, der Pkw und die Räumlichkeiten des Lehrers - der Spind und eine neben der Turnhalle gelegene und von ihm in eine "Chill Out-Zone" umgewandelte frühere Schulwart-Wohnung - in seiner Schule unberücksichtigt.

In der Wohnung des Mannes wurde jedenfalls in Fülle einschlägiges Material sichergestellt - wie sich im Zuge der Erhebungen herausstellte, hatte der Pädagoge, der seit 1996 als pragmatisierter Beamter an einer Mittelschule mit Schwerpunkt Sport beschäftigt war, Nacktbilder bzw. -aufnahmen seiner Schüler angefertigt, die das teilweise gar nicht mitbekommen hatten, weil sie womöglich mit K.o.-Tropfen oder Ähnlichem betäubt wurden. Wenige Tage nach dem Suizid des Lehrers soll dann der Ex-Schüler in der Schule aufgetaucht sein und - so die in der gegen ihn gerichteten Sachverhaltsdarstellung skizzierte Verdachtslage - dessen Spind geleert und den Inhalt mit einem Auto weggebracht haben. Für den Ex-Schüler gilt - wie auch für den Basketball-Trainer - die Unschuldsvermutung.

Zur Hausdurchsuchung stellte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft am Dienstag klar: "Die Hausdurchsuchung hat sich auf die Wohnung samt den dazu gehörenden Kellerräumlichkeiten erstreckt." Der Lehrer habe sich aber "derart kooperativ" verhalten und freiwillig alles herausgegeben, dass man den Keller nicht mehr untersucht habe. "Von einem Spind in der Schule und einer umgebauten Schulwartwohnung war uns zum damaligen Zeitpunkt nichts bekannt", erklärte Behördensprecherin Ziska.

Missbrauchsvorwürfe auch an Wiener Kindergärten

Schon über ein Jahr lang standen Missbrauchsvorwürfe gegen den Pädagogen eines Kindergartens in Wien-Penzing im Raum, ehe die Eltern der übrigen Kinder, die Eltern möglicher weiterer Opfer, davon erfuhren. Sie fürchten nun, dass der Fall nie lückenlos aufgeklärt werden könnte - dafür sei schon zu viel Zeit vergangen. In diesem Fall ermittelt die Wiener Staatsanwaltschaft (StA), PULS 24 berichtete. 

ribbon Zusammenfassung
  • Im Missbrauchsfall um einen Sportlehrer, der bis zu seinem Suizid im Mai 2019 an einer Wiener Mittelschule etliche Buben im Alter von neun bis 14 Jahren missbraucht haben dürfte, gibt es weitere Betroffene in einem Feriencamp am Wolfgangsee.
  • Das gab der Verein Ferienhort - eine große Einrichtung, die seit 1888 besteht und Sommer-Camps für Kinder und Jugendliche veranstaltet - am Dienstag auf APA-Anfrage bekannt.
  • Indes gerät im inzwischen weitverzweigten Missbrauchsfall die Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) in ein immer schieferes Licht.
  • Die dem Kindeswohl verpflichtete Ombudsstelle wusste seit Herbst 2018 von Berichten über übergriffiges Verhalten eines möglichen Mittäters, informierte aber nicht die Staatsanwaltschaft.

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